Bei schlechten Manieren sieht diese Dame rot

Freiherr Adolph Knigge ist seit über 200 Jahren tot. Seine Regeln gelten aber heute noch. Michèle Ségouin zeigt, wie Anstand Spass machen kann.

  • Auf Messers Schneide: Bei Michèle Ségouin gehört zum Lernen Spass dazu. (ZVG)
  • Rot bis zu den Zehenspitzen: Was Freiherr Adolph Knigge dazu wohl sagen würde? (ZVG)

«Es ist die absolute Todsünde», gesteht Michèle Ségouin gleich zu Beginn und zupft ihr knallrotes Deuxpièces zurecht. «In roten Kleidern vor Publikum aufzutreten – das geht gar nicht. Aber ich tanze gerne mal aus der Reihe.» Das Eis ist gebrochen, die Angst vor der vermeintlich strengen «Anstandsdame», wie sich die Innerschweizerin selbst bezeichnet, ist verflogen.

Unter dem Titel «Anstand ist mehr als nur eine Beilage!» führt Ségouin im Luzerner Restaurant Opus durch den Abend. Beim Apéro mit Blick auf die Reuss gibt sie erste nützliche Tipps. Oder hätten Sie gewusst, wie man jemandem die Hand schüttelt, wenn die rechte das Sektglas hält und in der linken ein Häppchen liegt?

Beim anschliessenden Dreigänger in der Vinothek des Restaurants läuft die diplomierte ­Hôtelière-Restauratrice HF zur Hochform auf, balanciert souverän auf dem dünnen Hochseil zwischen Seriosität und Witz. Schliesslich wollen die Gäste gleichzeitig etwas lernen und unterhalten werden. «Den coolen Typen spielen bei der Weinauswahl, das geht gar nicht. Sagt dem Kellner nicht, ‹wir nehmen den Merlot vom Pädu›, nur um ihm zu beweisen, dass ihr den Winzer persönlich kennt.» Wie man aber richtig degustiert, worauf es beim Einschenken zu achten gilt und wie man Lippenstift-Flecken am Glas verhindert, zeigt Ségouin stilsicher vor. Die Lösung: Frau befeuchtet das Glas unauffällig mit der Zunge.

«Wenn ich mal gross bin, mache ich das auch. Aber attraktiver»

Wie man beim Wein einen Fehler feststellt, durfte sie nicht nur theoretisch erklären: Trotz leichter Erkältung bemerkte sie den «Zapfen» beim Roero Arneis, der die Vorspeise begleiten sollte, und bat freundlich, beinahe sich entschuldigend, um eine neue Flasche.

Sie habe mit dem Knigge-Coaching ihr Hobby zum Teilzeit-beruf gemacht, erklärt Michèle Ségouin. Doch wie stösst jemand auf ein solches Hobby? «Mein Herz schlug seit Kindertagen für die Gastronomie», erinnert sie sich. «An der Hotelfachschule in Passugg/Chur kam ich dann erstmals mit dem Knigge in Kontakt. Doch der Lehrer vermittelte uns diesen Stoff derart trocken, dass ich mir schwor: ‹Wenn ich mal gross und stark bin, dann mach ich das auch. Aber attraktiver.› Und so biete ich nun Knigge- und Wein-Coaching an.»

Ségouin lässt sich von Unternehmen für Anlässe buchen, von der kleinen Kaffee-Boutique bis zur Hotelkette. Dabei lässt sich die Tochter eines Kochs nicht verbiegen: «Wer mich bucht, kauft die Katze im Sack. Man muss mich nehmen, wie ich bin.» Da Umgangsformen echt und unverstellt sein sollten, lasse sie es sich nicht nehmen, frei von der Leber zu reden, aus dem Leben zu erzählen und Wissenswertes mit Schmunzlern zu kombinieren. So berichtet Ségouin eben auch vom Rotweinfleck auf dem Hawaii-Hemd von Hollywood-Star Jack Nicholson, den sie ihm beim Kellnern zufügte. «Nicholson schlief am Tisch und bemerkte den Fauxpax zum Glück nicht.»

Ob sie eines Tages ganz von ihren Benimm-Kursen leben will und kann, weiss Ségouin nicht. Es scheint, als geniesse sie ihre verschiedenen Rollen als Anstandsdame, Teilzeit-Gastgeberin im Luzerner Restaurant Weisses Schloss, Ausbildungsverantwortliche und Fachlehrerin.

Andere Länder, andere Sitten – wer setzt sich zuerst hin?

Ihr Studium in Transkultureller Kommunikation am Institut für Kommunikation und Führung  offenbarte Ségouin schliesslich, wie unterschiedlich Anstand in den verschiedenen Ländern ausgelegt wird. «Ich musste Ausländern, die in der Schweiz auf Jobsuche sind, zum Beispiel erklären, wie man sich beim Vorstellungsgespräch verhält: Bei der Simulation eines solchen Gesprächs bemerkte ich, wie der Bewerber sich trotz einer entsprechenden Bitte nicht hinsetzte. Er wollte unbedingt warten, bis sich der künftige Chef gesetzt hätte. In seinem Herkunftsland gilt es nämlich als unanständig, sich zu setzen, solange der Vorgesetzte stehe. Andere Länder, andere Sitten.» 

Seit kurzem ist die Anstandsdame auch Gastdozentin an der Schweizerischen Hotelfachschule Luzern. Dem einen oder anderen Studierenden wird sie wohl bald schon Manieren und Umgangsformen beibringen. Denn bei schlechten Manieren sieht Michèle Ségouin rot.

(Benny Epstein)


Nächste Termine

28./29. Oktober

Mit der Gastro-Koryphäe Herbert Huber lehrt die Anstandsdame ihre Gäste im Restaurant Glasi in Hergiswil Benimmregeln. Fr. 70.– inklusive Dinner.

13. Dezember 

«Früher und heute – ­Umgangsformen im Wandel der Zeit» im Restaurant Opus. Details folgen.


Mehr Informationen unter: <link http: www.dieanstandsdame.ch>www.dieanstandsdame.ch