Damit Ehrgeiz nicht tödlich endet

Sechsteilige Serie «Die Jagd nach Punkten und Sternen» –
Teil 5: Der Psychiater.

Psychiater Andres Ricardo Schneeberger: «Ist der berufliche Erfolg die einzige Zutat, bleibt die Lebenssuppe fad.» (ZVG)

Warum zerbrechen gewisse Menschen am Leistungsdruck und andere nicht? Der Psychiater Andres Ricardo Schneeberger gibt Auskunft und Tipps.

HGZ: Spitzenköche werden oft mit Spitzensportlern verglichen. Was treibt Menschen zu Höchstleistungen an?

ANDRES RICARDO SCHNEEBERGER: Das ist ganz individuell. Es gibt verschiedene Motivationsfaktoren. Beispielsweise die Angst, etwas zu verlieren oder der Wunsch nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Negative Motivatoren sind allerdings weniger stark als positive. Allgemeingültig kann man sagen: Erlebt ein Mensch etwas Schönes, speichert das Hirn das entstandene positive Gefühl ab. Dieses will man dann immer wieder erleben.  

Ist den Menschen darum das Sammeln von Punkten und Auszeichnungen so wichtig?

Ja, denn erreichte Punkte, zum Beispiel in einem Computerspiel, lösen Glücksgefühle aus. Das Verlangen nach diesen so genannten positiven Verstärkern motiviert zum Weitermachen und Besserwerden. Es kann aber auch in ein Suchtverhalten führen. Am stärksten ist eine Motivation nämlich, wenn man weiss, dass man etwas bekommen könnte, aber nicht weiss, wann. So wie das an Geldspielautomaten und Roulettetischen der Fall ist.

Spitzenköche werden umjubelt wie Stars. Welche Gefahren bestehen, wenn man so im Rampenlicht steht?

Es kann sein, dass man sich durch die positiven Verstärkungen blenden lässt und vergisst, was im Leben sonst noch zählt. Arroganz, ein übersteigertes Selbstbild und die Angst, dass es mit der Aufmerksamkeit plötzlich zu Ende ist, sind weitere negative Folgen.  

Man geht davon aus, dass Erfolgreiche glücklich sind. Suizide von Topmanagern und Spitzenköchen sprechen aber eine andere Sprache. Warum macht Erfolg nicht glücklich?

Ist der berufliche Erfolg die einzige Zutat, bleibt die Lebenssuppe fad. Wie bei guten Rezepten kommt es auch im Leben auf die ausgewogene Kombination der Bestandteile an. Freundeskreis, Familie, Hobbys, Sport, Zeit für sich selbst – Menschen, die im Beruf extrem erfolgreich sind, ordnen das oft der Karriere unter.

Was ist daran falsch, ehrgeizig zu sein und sich ganz auf die Karriere zu konzentrieren?

Gegenfrage: Würden Sie Ihr gesamtes Vermögen auf eine einzige Aktie setzen? Wohl kaum. Menschen, die sich nur über beruflichen Erfolg definieren, tun genau dies. Wer so investiert, geht das Risiko ein, alles zu verlieren.

Die einen gehen locker mit Leistungsdruck und Rückschlägen um, andere zerbrechen daran. Kann man Resilienz, die psychische Widerstandsfähigkeit, lernen?

Ja und Nein. Es gibt genetische Voraussetzungen, die einen Einfluss darauf haben, wie ein Mensch Stress erlebt. In Krisensituationen schüttet der Körper Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol aus. Bei einem mehr, beim anderen weniger. Das ist biologisch bedingt und nicht steuerbar. Was man lernen kann, ist, wie man sich entspannt und wie man am besten neue Kraft tankt. Letzteres ist wieder sehr individuell. Allgemein gültig kann man sagen, dass Menschen, die ihr Selbstwertgefühl nicht nur aus einem Lebensbereich nähren, besser mit Rückschlägen umgehen und sich schneller davon erholen. Weil ihr Selbstwert nicht nur ein Standbein hat, sondern mehrere, bricht für sie nicht gleich eine Welt zusammen, wenn das berufliche Standbein mal wegknickt.

Gibt es Persönlichkeitsstrukturen, die eher gefährdet sind, an Krisen zu zerbrechen?

Schwierig ist es für Menschen, die sich auf ein einziges Standbein konzentrieren und dabei äusserst  ehrgeizig und perfektionistisch sind. Um Rückschläge gut verkraften zu können, braucht es eine gewisse Grosszügigkeit und Nachsicht mit sich selbst. Das widerspricht aber dem Verlangen nach Perfektion.

Was kann man tun, wenn man merkt, dass der eigene Ehrgeiz oder der eines anderen ungesunde oder gar gefährliche Züge annimmt?

Es unbedingt ansprechen. Bei sich selbst auf Signale wie Erschöpfung, Gleichgültigkeitsgefühl, Schlafprobleme oder Aggressivität achten und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Betrifft es einen anderen, das Thema mit «Ich-Botschaften» ansprechen. Zum Beispiel: «Ich mache mir Sorgen, dass du dir etwas antun könntest, weil ...»

Jemandem sagen, dass man ihn für suizidgefährdet hält; ist das nicht etwas heikel?

Es ist viel besser, es anzusprechen, als zu schweigen. Keine Angst, man treibt so niemanden in den Suizid. Ein Suizid geschieht nicht einfach so. Er ist immer in einen Kontext eingebettet. Auch passieren Selbsttötungen nicht spontan. Die Absicht dazu reift und wird meistens mehr oder weniger direkt angekündigt. Aussagen wie «Manchmal wünschte ich, es wäre einfach Schluss» sollte man ernst nehmen und hinterfragen.

Beendet jemand sein Leben freiwillig, bleiben Angehörige schockiert, verständnislos und manchmal mit Schuldgefühlen zurück. Was hilft?

Sich nicht von Schuldgefühlen herunterziehen lassen. Es gibt nur einen Menschen, der für einen Suizid verantwortlich ist, und das ist derjenige, der ihn begangen hat. Vielen Hinterbliebenen tut es gut, mit Menschen zu reden, die Gleiches oder Ähnliches erlebten. Der Besuch einer Selbsthilfegruppe kann da  hilfreich sein.

 

Andres Ricardo Schneeberger

Er ist ausgebildeter Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Co-Chefarzt der Ambulanten Psychiatrischen Dienste Süd und der allgemeinpsychiatrischen Tagesklinik St. Moritz. Zudem hat er einen Lehrauftrag am Albert Einstein College of Medicine in New York City.

Hier findet man Hilfe

Tel. 143: Der Service «Die dargebotene Hand» ist schweizweit, 24 Stunden, anonym und kostenlos erreichbar.<link http: www.143.ch>
www.143.ch

Der Hausarzt: Er ist eine gute erste Ansprechperson.

Die Notaufnahme des nächstgelegenen Spitals: Hier wird einem in akuten Situationen geholfen, und es werden weiterführende Schritte eingeleitet.

Telefonauskunft 1818: «Wer ist heute der Notfallpsychiater in ...?»

Selbsthilfegruppen und Seelsorge für Hinterbliebene nach Suizid:
<link http: www.seelsorge.ne>www.verein-refugium.ch
www.nebelmeer.net
www.seelsorge.net