Verschwenden? Verschwinden!

Weil wir es uns leisten können, landet in der Schweiz unfassbar viel Essen in der Mülltonne. Allmählich dreht der Wind aber: Gegen Food Waste zu kämpfen, ist im Trend. Ein Blick auf Ideen und Möglichkeiten.

  • Der Gemeinschaftskühlschrank an der Berner Schwarztorstrasse gehört zum Projekt «Bern isst Bern». Eine Idee von Nachbarn für Nachbarn. Die Betreuung ist zeitintensiv. (Keystone)
  • Frisch von gestern: Die mobile Äss-Bar bei der Zürcher ETH am Hönggerberg. (Keystone)

Es scheint, als mache es nun endlich «klick». Ist es, weil das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Umwelt und gegenüber künftigen Generationen steigt? Ist es, weil beim Blick in ärmere Regionen das schlechte Gewissen nagt? Ist es, weil der Spargedanke durchgedrungen ist? Oder ist es vielleicht gar nur, weil es einfach trendig und gut fürs Image ist? Die Antwort ist ziemlich gleichgültig. Was zählt, ist, dass die Bewegung gegen Food Waste endlich den Durchbruch in einer breiten Öffentlichkeit zu schaffen scheint.

Fast täglich liest sich mittlerweile in einer Tageszeitung ein Bericht über den Kampf gegen Essensverschwendung. Hier die neuesten schockierenden Zahlen, da ein neues Projekt, dort eine neue App zum Thema. «Das Interesse und das Engagement haben in den letzten zwei, drei Jahren massiv zugenommen. Zahlreiche Firmen und Vereine haben sich dem Kampf verschrieben», bestätigt Simon Weidmann, Geschäftsführer der «Äss-Bar» in Bern, in der er unter dem Motto «Frisch von gestern» Backwaren vom Vortag zum halben Preis verkauft. Während die einen Kunden des guten Konzepts und der nach wie vor tadellosen Qualität wegen bei ihm Brot, Gipfeli und Weggli kaufen, tun dies andere aufgrund der niedrigen Preise. Oder aus einem Mix der Gründe. «Das Schöne ist, dass es nur Gewinner gibt.»

Laut foodwaste.ch geht ein Drittel aller in der Schweiz produzierten Lebensmittel zwischen Feld und Teller verloren oder wird verschwendet. Das entspricht pro Jahr rund 2,5 Millionen Tonnen Nahrungsmittel oder der Ladung von rund 140 000 Lastwagen, die aneinandergereiht eine Kolonne von Zürich bis Madrid ergeben würden. Das beginnt bei aussortiertem, unförmigem Obst, geht bei der Überproduktion, Transportverlusten, Tellerresten bei zu grossen Portionen und abgelaufenen Produkten weiter und endet bei allen übrigen weggeworfenen Essensresten, die entstanden sind, weil man gerade keine Lust mehr hatte, fertig zu essen. Nicht essbare Teile von Lebensmitteln sind hier nicht mit eingerechnet.

Erschreckende Wegwerfquote – insbesondere im Haushalt

63 Prozent des in der Schweiz produzierten Frischgemüses werden verschwendet, 56 Prozent aller Brote landen im Abfall, 17 Prozent der hierzulande hergestellten Fleischprodukte ebenso. Zwar fallen bei der Essensverschwendung 45 Prozent auf private Haushalte. Doch auch in Restaurants und Hotels landen pro Jahr 260 000 Tonnen gutes Essen im Eimer. Das ist moralisch verwerflich. Ebenso wichtig aber: Da wird viel Geld zum Fenster hinausgeworfen.

Es lohnt sich also allemal, einen Blick auf die verschiedenen Optionen zu werfen, um im Kampf gegen Food Waste mitzutun.

Mit mehreren Projekten engagiert sich «United Against Waste». Neu bietet die Vereinigung Foodboxen für Restaurants an. In diese Boxen können dem Gast die vermeintlichen Anstandsreste eingepackt und mitgegeben werden. Die ersten fünfzig Boxen pro Betrieb sind gratis.

Ein weiteres Angebot von «United Against Waste»: Mittels einer App lässt sich die Verschwendung zählen und analysieren. Wie viel Ware ist verdorben? Wovon wurde zu viel produziert? Was gaben die Gäste zurück? Wie viel Abfall entstand bei der Produktion und Zubereitung der Speisen? Laut einem Bericht im «Tages-Anzeiger» machte das Hotel Belvoir in Rüschlikon am Zürichsee bei einer Pilotstudie mit – und sparte schliesslich pro Monat 3000 Franken.

Einen unkonventionellen Weg beschritt Brigitte Heller, Direktorin des Hotels Metropol in Luzern. Mit Tischstellern fordert sie ihre Gäste dazu auf, nur so viel vom Frühstücksbuffet zu schöpfen, wie man essen möge. Wer sich beschwert, erhält vom Personal Schockbilder, die hungernde Menschen zeigen. Eine Massnahme, die ihre Wirkung nicht verfehlte: Seit dem Start der Aktion musste das Hotel 50 bis 70 Prozent weniger Lebensmittel wegwerfen. Zudem warf die mutige Aktion grosse Wellen. Von weit her habe das Viersternehotel Mails mit ausschliesslich positiven Rückmeldungen erhalten.

Wer seinen Teller nicht brav leer isst, bezahlt einen Zuschlag

Die Asia-Kette «Nooch» serviert heute kleinere Portionen Reis als früher. Selbstverständlich bekomme der Gast auf spezifischen Wunsch gratis mehr Reis. Ein ­anderes asiatisches Lokal in Deutschland lässt seine Gäste am Ende des Besuchs sogar einen Zuschlag berappen, wenn die Reste mehr als 100 Gramm wiegen.

Die Vegi-Kette «Tibits» lässt die Reste von «foodsharing» abholen. Die Initiative organisiert die Verteilung der Ware an bedürftige Haushalte. Zudem achtet man bereits bei der Produktion auf einen rücksichtsvollen Umgang mit den Esswaren und versucht, essbare Abfälle so gering wie möglich zu halten.

Auch «Tischlein deck dich» rettet Lebensmittel vor der Vernichtung und verteilt sie an bedürftige Menschen in der ganzen Schweiz. Pro Woche erreicht die Initiative an 115 Abgabestellen rund 15 800 Menschen in Not.

Die unabhängige Schweizer Informations- und Dialogplattform foodwaste.ch organisierte in Bern, Basel und Zürich bereits Anlässe unter dem Titel «Deine Stadt tischt auf», an denen in ­riesigen Pfannen Menüs aus unverkäuflichen Lebensmitteln zubereitet und kostenlos verteilt wurden, um auf die Food-­Waste-Problematik aufmerksam zu machen.

Mit Regionalzentren in Urdorf, Lenzburg und Langnau am Albis sorgt «Aufgetischt statt weggeworfen» aus Ressourcenüberlegungen dafür, dass nicht verkauftes Essen möglichst gleich in derselben Gemeinde an Arme verschenkt wird.

Von der Wohltätigkeitsschiene zum profitablen Business

Der Caterer «Zum guten Heinrich» fährt in Zürich und Bern mit dem «Food Bike» durch die Stadt und bietet Gerichte an, die zu gros­sen Teilen aus unförmigem Gemüse bestehen. «Unsere dreibeinigen Karotten, krummen Gurken und riesigen Kartoffeln entsprechen nicht den gängigen Schönheitsidealen und würden normalerweise entsorgt werden. Wir aber hauen sie in die Pfanne. Dort entfalten ebendiese ihre wahren Werte und werden zu deliziösen Menüs verarbeitet.» Letztes Jahr liessen sie so 1600 Liter Kartoffelbier fürs Restaurant Altes Tramdepot in Bern brauen.

«Es gibt schon relativ viele Vereine, welche im Non-Profit-Bereich Food Waste verarbeiten», fasst «Zum guten Heinrich»-Mitbegründer Lukas Bühler zusammen. «Neuerdings kommen aber auch innovative Start-ups dazu, welche Food Waste eher als Ressource sehen, denn als Verschwendung.» Während also ein Ansatz sich damit befasst, die Verschwendung zu stoppen, versuchen andere, aus dem Verschwendeten Nutzbares zu machen. «Wir Food-Waste-Unternehmer stehen in engem Kontakt und unterstützen uns gegenseitig, denn die Herausforderung ist immer die gleiche: Wie können wir die Thematik Food Waste aus der Wohltätigkeitsecke holen und daraus ein profitables Business machen?»

Einen weiteren Meilenstein gegen Food Waste will die Ökonomische Gemeinnützige Gesellschaft Bern (OGG) mit der Herausgabe eines neuen Kochbuchs setzen. Es erscheint am 29. April unter dem Titel «Restenlos glücklich». Ein Kochbuch voller kreativer Rezepte, Tipps und Geschichten rund ums Thema Lebensmittelverschwendung respektive Restenverwertung. Ein schrumpeliger Apfel, der eine exotische Suppe veredelt, ein trockenes Brot, das in einer Lasagne seinen Platz findet, ein Hörnli-Rest, der zum Schokoladendessert verzaubert wird. «Food Waste hat weitreichende Folgen für Umwelt, Klima und die globale Ernährungssicherheit», begründet Geschäftsführer Franz Hofer das Engagement. «Zudem verursacht die Lebensmittelverschwendung allein in der Schweiz Kosten in Milliardenhöhe.»

Spitzenkoch Mirko Buri hat sich mit seinem Unternehmen «Mein Küchenchef» dem Kampf gegen Food Waste verschrieben. Auch er sei früher immer wieder in die Wegwerf-Falle getappt: «Mit den ‹Restenlos glücklich›-Rezepten kann jeder Vater, jede Studentin, jedes Rentnerpaar genussvoll experimentieren – und etwas gegen Lebensmittelverschwendung tun.» Und sogar die Politik steht hinter dem neuen Kochbuch. So lässt sich die grünliberale Waadtländer Nationalrätin Isabelle Chevalley auf der OGG-Website zitieren: «Der Staat muss aktiv gegen Lebensmittelverschwendung ankämpfen. Diese Verschwendung ist weder ethisch, ökologisch noch ökonomisch.»

Wann der Kampf gegen die Verschwendung gewonnen sei, weiss «Ässbar»-Chef Simon Weidmann genau: «Sobald es unsere Äss-Bar nicht mehr braucht.» Dafür muss endlich das Verschwenden verschwinden.