Wie viel Glas braucht Wein?

Moderne Weine kommen in kleinen Kelchen nicht zur Geltung. Auch die klassische Tulpenform in günstigster Ausführung ist nicht die beste Lösung. Experten geben Tipps für besten Trinkgenuss.

Die spannendste Serie der Verkostung: Pinot Noir Kloster Sion von Andreas Meier, Würenlingen/AG, aus DB Allround von Mark Thomas, «Intense» von Ziehrer Vision, Riedel Veritas Old World Pinot, Denk’Art Bordeaux von Zalto, Weinglas 00 aus der Linie Willsberger Anniversary von Spiegelau und dem brandneuen Zwiesel 1872 Air Sense, designt vom schwedischen Designduo Carl Philipp Bernadotte (Prinz von Schweden) und Oscar Kylberg. (Vinum/Linda Pollari)

Ganze 130 Gramm beträgt der Gewichtsunterschied zwischen dem leichtesten und dem schwersten der Weingläser, die eine kleine Gruppe von Weinexperten getestet hat. 130 Gramm sind eine Menge Glas, die beim Weingenuss ins Gewicht fallen. René Gabriel beispielsweise bietet sein «Gabriel-Glas» in zwei Varianten an: mundgeblasen mit einem durchschnittlichen Gewicht von 87 Gramm und maschinengefertigt mit 141 Gramm. Nebeneinander aufgestellt lassen sich auf den ersten Blick weder in der Form noch der Grösse Unterschiede feststellen. Wohl aber bei der Haptik. Das mundgeblasene Gabriel-Glas fühlt sich seidiger, weicher und somit edler an. Interessant sind die markanten Unterschiede bei der sensorischen Wahrnehmung. Im maschinell gefertigten Glas wirken Weiss- und Rotweine jünger, frischer und direkter, aber auch rustikaler. Im mundgeblasenen Pendant hingegen präsentieren sich die Weine fruchtiger, eleganter und ausgewogener. Aus Letzterem verkostet, punkten alle Weine mit einem bis eineinhalb Punkten mehr in der Bewertung auf der 20er-Skala.

Sind mundgeblasene Gläser besser als maschinell gefertigte? Die Antwort auf diese Frage gibt ein Streifzug durch die Geschichte.

Mit der Erfindung der Glasmacherpfeife im 1. Jahrhundert nach Christus erleben Trinkgefässe aus geblasenem Glas in der römischen Kaiserzeit einen ersten Aufschwung. Die Ursprünge der hauchdünnen, hochstieligen Trinkgläser aus reinstem Glas, wie wir sie heute kennen, reichen zurück ins Venedig des 16. Jahrhunderts. Der Mode folgend entstehen 200 Jahre später umfangreiche Trinkservice mit Gläsern für verschiedene Weine und Spirituosen. Allesamt sind sie reich verziert durch Schliff, Schnitt, mit farbigem Glas und bunter Malerei im Stil der Porzellandekoration. Erst der Jugendstil bringt für das Glas die Wende hin zur Moderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint es zunächst, als seien alle Bemühungen um das funktionsgerechte, kunstvoll gestaltete Weinglas vergeblich gewesen. Mitte der Fünfzigerjahre prägt erneut der rustikale, diesmal skandinavische Glasstil mit schweren, üppig geschliffenen Gläsern den gedeckten Tisch.

Maschinelle Produktion macht Weingläser massentauglich

1961 gelingt Zwiesel die vollautomatische Produktion von Kelchglas, das vor allem in der Gastronomie auf grosses Interesse stösst. Weingläser werden zu erschwinglicher Massenware. Elegante, dünnwandige Gläser können aber weiterhin nur Manufakturen herstellen, die traditionell von Mund blasen. Denn die Maschine braucht herstellungstechnisch eine gewisse Wandstärke. Diese zu reduzieren, ist die Aufgabe von Ingenieuren. Deren Ergebnis sind Kelche, wie die der Linie Veritas von Riedel: extrem fein und leicht und von mundgeblasenen Gläsern kaum zu unterscheiden. Ob mundgeblasen oder maschinengefertigt: Bei einem sehr feinen Mundrand ist das Trinkgefühl um einiges angenehmer und steigert intuitiv die Leistung der sensorischen Rezeptoren.

Ein Glas für jede Rebsorte

Einen weiteren Meilenstein legt Claus Riedel. 1973 präsentiert der Glasdesigner aus dem österreichischen Kufstein in Zusammenarbeit mit der italienischen Sommelier-Vereinigung die erste Gourmet-Glasserie der Welt. Claus Riedel fand heraus, dass Gläser, wie man sie bisher benutzte, völlig ungeeignet waren, edle Weine zur Geltung zu bringen. Die Kelche waren zu klein dimensioniert und in Unkenntnis physiologischer Vorgänge beim Trinken gestaltet. Zum ersten Mal fliessen önologische Prinzipien in die Gestaltung der Kelche ein. Während 1973 zehn Grössen präsentiert werden, umfasst die Linie Sommeliers heute 34 Modelle, von Alsace bis Sauternes und von Cognac bis Whisky. Die von Riedel über Jahre erarbeiteten Erkenntnisse im Zusammenspiel von Glasform und Weingenuss sind heute Allgemeingut, und Weinkenner stellen diese Anforderungen wie selbstverständlich an ein weingerechtes Glas. Das gilt für den privaten Gebrauch genauso wie für die Gastronomie.

Neue Formen von neuen Marken

Riedels Mitbewerber auf dem Markt haben nicht geschlafen. Seit einigen Jahren lancieren neue Marken Gläser wie die bauchigen Kelche mit doppeltem Knick von Mark Thomas, die sich an den Winkeln der Erdachse orientierenden Denk’Art von Zalto oder die Vision von Ziehrer.

Wie einst Riedel mischt zurzeit der Vision-Designer Silvio Nitzsche die Szene auf. «Es gibt bei meiner Serie keine Weiss- oder Rotweingläser», schreibt der Sommelier und Inhaber der Wein- Kulturbar in Dresden. «Ich unterscheide nach Themen- und Charaktergläsern.» Mit deren Namen erklärt er spielerisch einfach die Einsatzmöglichkeit. «Fresh» ist für junge, perlende Weine jeder Couleur gedacht. «Straight» definiert fruchtige und aromatisch präsente Weine. Für opulente, grosse Gewächse ist «Intense» die richtige Wahl und «Balanced» bringt vielschichtige und sensible Weine richtig zur Geltung. «Man greift intuitiv zu dem Glas, das die Geschmacksmomente des Weins, die man besonders betonen möchte, am besten präsentiert», erklärt Silvio Nitzsche. 

Somit stellen sich zwei weitere Fragen: Wie viel Glas braucht Wein und wie viele Gläser braucht ein Weinfreak zu seinem Glück? Die Frage nach der Anzahl Gläser ist subjektiv und nur schwer zu beantworten. «Das richtige Glas kann einem Wein zu Höhenflügen verhelfen – oder ihn zerstören. Hat der Sommelier im Restaurant die Möglichkeit, mit mehreren Gläsern zu spielen, trägt er eine grosse Verantwortung gegenüber dem Gast wie auch dem Wein», sagte Paul Blume, Gastronom aus Zürich. «Meine Favoriten im Profipanel sind die Gläser von Mark Thomas. Total überrascht hat mich das Air Sense von Zwiesel 1872. Obwohl ich das Glas optisch abstossend finde, werde ich mir wohl eines kaufen müssen. Denn sensorisch ist dieses eine Offenbarung.» Zu Hause kommt Paul Blume mit zwei Gläsern aus: einem kleineren und einem grösseren. «Diese habe ich jedoch mit Bedacht gewählt», teilt er eine viel geäusserte Meinung.

Wein braucht Raum und Zeit

Obwohl komplexer, ist die erste Frage nach wie viel Glas im Sinne von Raum einfacher beantwortet. Die führenden Hersteller bieten kaum Weissweingläser unter 30 Zentilitern Fassungsvermögen an. Rotweingläser mit 40 bis 90 Zentilitern Inhalt sind die Norm. Kleinere Gläser wie das Riesling-Glas aus der Linie Veritas von Riedel eignen sich für neutrale und aromatische Weissweine. Schmale Kelche betonen die Säure. Im Barrique gereifte Weissweine verlangen voluminöse Gläser. Das Bordeaux-Glas von Zalto hielt im Profipanel die Röstnoten dezent zurück und brachte die Frucht intensiv in den Vordergrund. Voluminöse Gläser sind auch ein Muss für kräftige, alkoholreiche Gewächse, egal ob weiss oder rot. In schlanken Kelchen steigt der Alkohol in die Nase und überdeckt die Frucht. Gläser der Linie Air Sense von Zwiesel 1872 vom schwedischen Designduo Carl Philipp Bernadotte (Prinz von Schweden) und Oscar Kylberg – die mit der Dekantierkugel im Kelch – öffnen junge Weine. Ein mineralischer Grüner Veltliner Reserve zeigt darin alle seine Facetten, während ein Chardonnay Barrique, im gleichen Glas kredenzt, von Holz erschlagen wird. Ganz anders verhält es sich mit der Linie Ziehrer Vision. Darin scheinen die Weine jung, direkt und kompakt.

Get in touch oder wie der Wein in den Gaumen fliesst

Genauso wichtig wie der Raum ist die Zeit, die man einem Wein zugesteht, um sich im Glas entfalten zu können. Die Form des optimalen Glases gibt dem Wein an seiner Oberfläche viel Raum zum Atmen. Idealerweise verjüngt sich der Kelch nach oben und konzentriert die Aromen. Die alles entscheidende Rolle spielt jedoch die Art und Weise, wie ein Wein über die Zunge in den Gaumen fliesst. Ruhig sollte sich dieser auf die Zungenspitze ergiessen. Stolpert und überschlägt sich der Wein oder muss er gar aus dem zu stark sich schliessenden Glas gesogen werden, schmeckt selbst der süsseste Wein garstig und bitter.

Der Vergleich zahlreicher Gläser sorgt auch bei Profis für Überraschungen. «Ich habe täglich mit Weingläsern zu tun. Doch nicht immer befasse ich mich derart intensiv mit der Materie», sagt Markus Hans, Importeur von Accessoires für die gehobene Tischkultur. «Der Vergleich mehrerer Marken, darunter auch solche, die wir nicht vertreten, bot viele positive und einige negative Überraschungen.» Was im Privaten funktioniere, könne beim Einsatz in der Gastronomie jedoch zu Problemen im Handling führen, ergänzt Markus Hans.

Thomas Vaterlaus, «Vinum»- Chefredaktor, findet, dass viele der neuen Gläser überzeugen. «Doch mit ihrem spektakulären Design drängen sie sich zu sehr in den Vordergrund. Ich bevorzuge zurückhaltend schlichte Gläser, die ebenfalls hervorragend funktionieren, aber gleichzeitig auf subtile Weise die Bühne ganz dem Wein überlassen.» So oder so ist es wichtig, dass die Gläser zum Stil des Lokals passen und dass sie mit den angebotenen Weinen harmonieren. Ein 150 Franken teurer Wein kann nicht in einem «Stamperl», das 2.95 Franken kostet, serviert werden.

Häufig ist die Pflege der Gläser ein Schwachpunkt

Ebenso wichtig wie die Wahl der Gläser ist deren Pflege. Dabei gilt es, auf mehrere Punkte zu achten. Fällt der Entscheid zugunsten einer Marke oder Linie, sollten unbedingt die Einzelkompartimente der Gläserkörbe angepasst werden. Gläser sollten sich beim Waschen nicht berühren. Zudem lohnt sich eine separate Gläserspülmaschine. Obwohl heute alle Weingläser spülmaschinenfest sind, vertragen diese nicht die gleichen Temperaturen wie Porzellan und Besteck. 60 Grad Celsius sind das Maximum. Und die Glasreinigung braucht weniger Chemie. Zu hohe Wassertemperaturen und zu viel Spülmittel können Fremdgeruch bilden und einen milchigen Korrosionsbelag am Glas verursachen, der nicht mehr entfernbar ist. Spezielle Filter entmineralisieren das Spülwasser und Tropfen hinterlassen keine Spuren. Werden die Gläser ausgerieben, gilt es, die Tücher regelmässig auszuwechseln. Fehltöne gelangen nur durch unsachgemässe Behandlung ins Glas. Denn Glas ist absolut geruchsneutral – ideal für einen ungetrübten Weingenuss.

(Gabriel Tinguely)


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