Ganz schön sauer

Essig hat ungeahnte Qualitäten. Er ist nachhaltig, gesund und vermindert Food Waste. Richtig eingesetzt, kann er zu Mehrumsatz bei den Getränken verhelfen und passt ins Dessert.

  • Balsamessig reift mehrere Monate bis Jahre in Holzfässern, bis er seinen vollen Geschmack und die dickflüssige Konsistenz hat. (Unsplash)
  • Im Drink Apple 75 verwendet Amanda Wassmer einige Tropfen Quittenessig vom Schloss Salenegg in Maienfeld/GR. (ZVG) 

Die Kenntnis der Essigbereitung ist alt. Schon in der Antike wussten die Menschen, wie man eigenen Essig herstellt. Aus sauer gewordenen Fruchtsäften, Wein oder Bier gewonnen, mischten sie den Essig mit Wasser und schätzten dies als kühlendes Getränk. Wasser wurde in dieser Zeit oft erst mit der Zugabe von Essig geniessbar. Essig diente zum Haltbarmachen von Fleisch und Gemüse, für die Zubereitung saurer Speisen sowie als Arzneimittel. 

«Ein Teelöffel unpasteurisierter Apfelessig am Morgen pflegt die Darmflora und unterstützt das Immunsystem», weiss Bruno Muff. Der Biobauer vom Obstbaubetrieb Haldihof in Weggis/LU stellt jährlich bis zu 10 000 Liter unfiltrierte und unpasteurisierte Essige her. «Unsere Essige bleiben natürtrüb, damit das Aroma und die wichtigen Essigbakterien nicht zerstört werden.» Zudem fügt der Biobauer den Essigen weder Wasser noch Zucker bei. Dies führt dazu, dass sie bis zu sieben, statt den üblichen fünf Prozent Säure aufweisen. Bis zu 35 verschiedene Sorten Essig aus Früchten in Tafelobstqualität vom Hof sowie von benachbarten Biobauern stellt das Team des Haldihofs her. Die gewaschenen Früchte werden unter Luftausschluss in Fässer eingemaischt und mit Hefe kontrolliert zur Vergärung gebracht. Nach einer Gärzeit von rund vier Wochen – bei der Fruchtzucker mit Hilfe von Hefen in Alkohol umgewandelt wird – kann der Obstwein zur Essigherstellung mit Essigbakterien versetzt werden. Auf dem Haldihof geschieht das kontrolliert in einem Tank unter Zuführung von Sauerstoff und Wärme. So finden die Essigbakterien einen geeigneten Lebensraum, um den zuvor durch Hefe gebildeten Alkohol in Essigsäure umzuwandeln. Dieser Grundessig wird je nach Verwendungszweck in Edelstahltanks oder Eichenholzfässern gelagert, um nach mehreren Monaten bis Jahren zur weiteren Verarbeitung herangezogen zu werden.

Für die Balsamicoessige verwendet das Haldihof-Team nur Grundessige aus der eigenen Produktion. Nach alter Rezeptur werden diesen über mehrere Monate getrocknete Früchte beigegeben. Die Essige übernehmen Aromastoffe und Farbe so weitgehend. Zu einem späteren Zeitpunkt wird eingedickter Fruchtsaft beigegeben. Wie man Essig auf einfache Art und Weise herstellt, erläutert Bruno Muff im Culinarium Alpinum, dem neu eröffneten Kompetenzzentrum für Kulinarik, in Stans. Wann, ist noch unklar.

Moritz Stiefel, Koch im «Hopfenkranz» in Luzern, stellt mit einem Teil der Essigmutter vom Haldihof sowie Rotweinresten eigenen Essig her und verhindert so Food Waste. Der Alkohol wird mit Hilfe der Essigmutter in rund vier Wochen in Essigsäure umgewandelt. «Je nach Saison aromatisiere ich den Essig mit Gemüse und verwende ihn punktuell zu aktuellen Gerichten», so Moritz Stiefel. 

Sven Wassmer vom «Memories» im Grand Resort Bad Ragaz/GR verwendet die Essige vom Haldihof. Der eben mit zwei Michelinsternen ausgezeichnete Koch schätzt die Essige wegen den wichtigen Inhaltsstoffen und erwähnt sie in der Speisekarte als Teil des Gerichts. «Momentan haben wir einen Apfelessig vom Haldihof im Gebrauch. Daraus stellen wir eine Art Gel her, den wir zum Abschmecken unseres Gerichts knuspriger Schweineschwanz, Schweizer Mole, Schlossere-Meerettich und Apfelessig verwenden», so der Spitzenkoch.

Nachfrage nach Pairings ohne Wein ist extrem gewachsen 

Sven Wassmers Frau Amanda komplementiert als Sommelière im «Memories» die Speisen mit passenden Getränken. Und dies längst nicht nur mit Wein. «Ich biete seit 2015/ 2016 Pairings mit wenig oder keinem Alkohol an. Die Nachfrage danach ist extrem gewachsen. Am Wochenende wählen rund 20 Prozent unserer Gäste eine alkoholfreie Getränkebegleitung zu ihrem Neun- oder Zwölfgangmenü», berichtet sie. Um diesem Bedürfnis gerecht zu werden, stellt sie zwölf alkoholfreie Getränke her. Für die Zubereitung vieler Getränke verwenden Amanda Wassmer und Junior-Sommelière Sabrina Schmidt Essige oder Shrubs. Shrubs sind essiggesäuerte Fruchtsirups. «Säure ist das Rückgrat jedes Weins. Aufgrund dieses Wissens gestalten wir spannende alkoholfreie Getränke. Essige geben Getränken häufig das gewisse Etwas», so die Sommelière. Meist reicht schon ein Tropfen davon, um Komplexität in die Getränke zu bringen. Einen auf Oolong-Tee basierenden Drink mit einem geräuchterten Orangenshrub, Piniensirup und Pflaumenpüree reichen sie sogar zum Dessert. 

«Sauer ist eine spannende Geschmacksrichtung, die häufig erst für die richtige Balance sorgt.»
 

Jennifer Kiessling bietet mit ihrer Firma Pairing Is Cairing massgeschneiderte Getränkebegleitungen an. Seit sie über 50 Veranstaltungen der Bündner Köchin Rebecca Clopath mit aussergewöhnlichen Getränken begleitet hat, weiss sie: «Das Bedürfnis nach spannenden alkoholfreien Getränken wächst.» 

Zusätzliche Gäste abholen und Mehrumsatz generieren

Seit einiger Zeit berät Jennifer Kiessling Gastronomen in Zürich in Sachen Getränke. Für das Sechsgang-Menü im «Mémoires»  stellt sie jeweils ein alkoholfreies Pairing zusammen. Sie erarbeitet mit den Gastronomen Strategien, wie mit alkoholfreien Getränken Mehrwert generiert werden kann. Dabei geht die 35-Jährige auf das jeweilige Konzept und bestehende Getränkeangebot ein. «Ich will nichts ersetzen», stellt die Weinliebhaberin und Absolventin der Weinausbildung WSET Level 2 klar. «Ich möchte mit gleichwertigen Alternativen ein Erlebnis bieten.» Mit spannenden Getränken können Gastronomen ihren Gästen einen Mehrwert bieten und mehr Umsatz generieren. Zusätzliche Gäste können abgeholt werden. 

«Als Apéro haben sich Getränke mit etwas Shrubs bewährt», weiss Jennifer Kiessling. Für die Herstellung von Shrubs legt sie Früchte, Gemüse oder Kräuter in einem biologisch hergestellten Apfelessig ein. Wünscht sie kein zusätzliches Aroma, süsst sie die Masse mit weissem Rübenzucker. Sonst mit Birnel oder Honig. Das Gemisch lässt sie zwischen einer Nacht und mehreren Monaten ziehen. Sie setzt Shrubs aber auch in Getränken für Speisebegleitungen ein. «Je nach Gericht füge ich dem Essig andere Zutaten bei. Dabei überlege ich, was passt.» Zu einem leichten Fischgericht stellt sie den Shrub mit Stangensellerie, Orange oder Fenchel her. Zu einem Mistkratzerli, mit Zitrone und Rosmarin.  

Mit der Produktion von Essig Foodwaste verhindern 

Karl Locher, Inhaber der Brauerei Locher aus Appenzell, tüftelt schon seit Jahren mit Bier und Fruchtessenzen. Daraus entstanden ist die neue Bier-Balsamessig-Linie Creaceto in den Aromen Apfel/Birne, Maracuja, Mango und Rauchmalz. Für die Essigproduktion werden Vor- und Nachlauf der Bierproduktion verwendet. Das ist das Bier-Wasser-Gemisch, das sich vor und nach dem Bierbrauen im Rohr befindet. Nach einer Fermentation mit Essigbakterien und der Filtration wird der Bieressig zum Balsamessig verfeinert. Dazu versetzt man ihn mit Konzentraten von Äpfeln und Birnen, Maracuja oder Mango, welche bei der Produktion von Mischgetränken übrigbleiben. So verwendet die Firma die gleichen Rohstoffe für mehrere Produkte.

«Essig ist vielseitig einsetzbar», weiss David Geisser. Der Koch und Markenbotschafter von Appenzeller Bier wurde durch seine Kochbücher berühmt und ist Inhaber eines Kochstudios in Wermatswil/ZH. Er entwickelte mit Creaceto Rezepte wie Zwiebel-Preiselbeer-Relish, Balsameis mit Honig, Spargeln mit Balsamessig und das Apfel-Birnen-Balsam-Süppchen (Rezept rechts). Auch er ist der Meinung: «Essig gibt vielen Gerichten erst das gewisse Etwas.»

(Sarah Sidler)


Rezept

Apfel-Birnen-Balsamsüppchen

Zutaten für 4 Personen
 1 EL Butter
 3 Schalotten, in Stücken
 1 kleine Karotte, in Stücken
 50 g Sellerie, in Stücken
 2 dl Wasser
 3 dl Apfelsaft
 1 dl Apfel/Birnen-Balsamessig
 1 TL Salz
  Salz und frisch gemahlener Pfeffer
 1 dl Rahm
  getrocknete Apfelringe

Zubereitung
Butter schmelzen, Gemüse beigeben, bei mittlerer Hitze für etwa drei Minuten dämpfen. Wasser beigeben, Gemüse bei kleiner Hitze rund 20 Minuten weichkochen. Apfelsaft, Balsamessig und Salz beigeben, rund fünf Minuten kochen. Fein pürieren, mit Salz und Pfeffer abschmecken. Rahm steif schlagen und auf der Suppe verteilen. Mit getrockneten Apfelstücken servieren.