„Gratis Analyse für Ü-40-Jährige“

Er ist einer der höchsten Arbeitnehmervertreter der Schweiz und Nationalrat. Nun stellt sich der Berner Adrian Wüthrich, Präsident und Geschäftsführer von Travail.Suisse, als Nationalrat zur Wiederwahl.

Der Berner SP-Politiker Adrian Wüthrich ist seit 2018 Nationalrat. (ZVG)

Adrian Wüthrich, wofür setzen Sie sich im Nationalrat besonders ein?
AdrianWüthrich:Für die Anliegen der Arbeitnehmenden. Mit der Reform der AHV und der Pensionskassen, dem Arbeitsgesetz und dem Rahmenabkommen mit dem Lohnschutz stehen wichtige Geschäfte zum Entscheid an. Ich setze mich dafür ein, dass Renten nicht gekürzt, Arbeitsbedingungen nicht verschlechtert und die Löhne mit GAV und Lohnkontrollen weiter geschützt werden.

Stichwort EU-Rahmenabkommen: Wie ist Ihre Position und wo betrifft das Abkommen das Gastgewerbe? 
Ich habe mich mit Travail.Suisse grundsätzlich für ein Rahmenabkommen ausgesprochen, wenn es den Lohnschutz garantieren kann. Den aktuellen Vertragstext unterstütze ich deshalb nicht, weil wir dann unsere flankierenden Massnahmen und den Lohnschutz nach unten anpassen müssten. Das Rahmenabkommen ist eine Forderung der EU zur Weiterführung des bilateralen Weges. Die Personenfreizügigkeit ist ein Abkommen in den bilateralen Verträgen und ermöglicht es auch dem Gastgewerbe im EU-Raum nach Mitarbeitenden zu suchen. Mit den flankierenden Massnahmen wird kon-trolliert, dass für alle Arbeitnehmenden in der Schweiz die GAV-Löhne bezahlt werden und die gleichen Arbeitsbedingungen herrschen.

Die Hotel & Gastro Union ist Mitglied von Travail.Suisse. Wie können die Union und das Gastgewerbe von Ihrem Sitz im Nationalrat profitieren?Als Parlamentarier kann ich noch direkter für die Anliegen von Travail.Suisse einstehen. Ich erhalte frühzeitig Informationen, die uns unsere Arbeit erleichtern. Wenn die Hotel & Gastro Union ein konkretes Anliegen hat, kann ich sie dabei unterstützen und Kontakte vermitteln: im Parlament, der Bundesverwaltung und dem Bundesrat. Alleine diese Möglichkeit zu haben, ist im entscheidenden Moment hilfreich. Bei der Abstimmung über die EU-Waffenricht-linien im letzten Mai habe ich mich mit Vertretern der anderen Tourismus- und Gastroverbänden gemeinsam an vorderster Front für ein «Ja» eingesetzt.  

Der Wirtschaft fehlen Fachkräfte, gleichzeitig finden Arbeitnehmende ab 50 kaum eine neue Stelle. Wie kann die Politik das Problem lösen? 
Jede Diskriminierung wegen des Alters muss konsequent bekämpft werden.Der Bundesrat hat deshalb zusammen mit den Sozialpartnern, darunter Travail.Suisse, Massnahmen zur Förderung der inländischen Arbeitnehmenden beschlossen. Bald werden alle ab dem Alter von 40 Jahren ein Anrecht auf eine kostenlose Standortbestimmung und Potentialanalyse haben. Damit haben wir die Möglichkeit, unsere Arbeitsmarktfähigkeit frühzeitig zu verbessern: mit entsprechender Weiterbildung und persönlicher Entwicklung. Zudem werden stellenlose, ältere Arbeitnehmende besser von den RAV unterstützt. Wer nach 60 Jahren ausgesteuert wird, soll das Anrecht auf eine Überbrückungsrente erhalten und nicht mehr in die Sozialhilfe gedrängt werden. Diese Rente muss 2020 noch vom Parlament beschlossen werden. Da aber bis 2030 über eine halbe Million Arbeitskräfte in der Schweiz fehlen werden, ist davon auszugehen, dass die Unternehmen von sich aus eine altersunabhängige Personalpolitik betreiben und die Vorteile der älteren Arbeitnehmenden erkennen. 

Gastro-Lehrstellen konnten nicht besetzt werden. Was sollte die Politik unternehmen?
Die Politik selber kann nicht viel tun. Es sind die Branchenverbände, die Sozialpartner mit den Organisationen der Arbeitswelt, welche für die Attraktivität der Berufslehren sorgen müssen. Mit dem Projekt «Berufsbildung 2030» wurden diverse Massnahmen ausgelöst, um die Berufsbildung attraktiv und zukunftsfähig zu halten. Die Politik kann aber mithelfen, ein gutes Image für die Berufslehre zu schaffen.  Mit der Unterstützung der Swiss Skills beispielsweise konnte eine attraktive Plattform für die Berufe geboten werden. Eine etwas länger dauernde Massnahme betrifft die Familienpolitik. Es gilt ein Umfeld zu schaffen, das Paare motiviert, eine Familie zu gründen und wieder mehr Kinder zu haben. Der Vaterschaftsurlaub gehört hier dazu.

Travail.Suisse verlangt vier Wochen Vaterschaftsurlaub. Warum braucht es den und kann sich das Gastgewerbe diesen überhaupt leisten? 
Die heutigen Väter wollen präsente Väter sein. Das können sie heute nicht, weil wir in der Schweiz keinen Vaterschaftsurlaub kennen. Mit den 20 Arbeitstagen haben wir einen pragmatischen Kompromiss vorgeschlagen zwischen den Befürwortern einer mehrmonatigen Elternzeit und jenen, die nur wenige oder gar keinen Vaterschaftsurlaub wollen. Mit 20 Tagen können positive Effekte auf die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, ein besseres Bindungsverhalten zwischen Vater und Kind und eine bessere Gesundheit aller Beteiligten festgestellt werden. Die Finanzierung eines solchen Vaterschaftsurlaubs kann sich auch das Gastgewerbe leisten. Die EO-Lohnprozente müssten für vier Wochen um 0.11 Prozent erhöht werden (0.055 für Arbeitgeber und Arbeitnehmer). Mit der gesetzlichen Lösung wären die KMU gegenüber grossen Unternehmen weniger benachteiligt auf dem Arbeitsmarkt. Heute leisten sich vor allem grosse Unternehmen bereits einen Vaterschaftsurlaub und präsentieren sich dadurch auf dem Stellenmarkt als attraktivere Arbeitgeber. Das werden sie auch in Zukunft tun können, aber nun ist klar, dass alle Arbeitnehmer in der Schweiz zwei Wochen flexibel tageweise innerhalb eines halben Jahres nach der Geburt des Kindes beziehen können. Egal bei welchem Unternehmen sie arbeiten.

Was halten Sie vom Gegenvorschlag, der zwei Wochen Vaterschaftsurlaub beliebt machen will? 
Dank dem Druck der Vaterschaftsurlaubs-Initiative hat das Parlament überhaupt zwei Wochen beschlossen. Es ist deshalb ein historischer Entscheid. Endlich erhalten auch die Väter in der Schweiz Zeit fürs Vaterwerden. Nach langen Diskussionen in Gesellschaft und Politik erhielten wir Unterstützung aus allen Fraktionen. Mit den zwei Wochen wird die Schweiz nicht mehr das einzige Land in Europa sein, das weder einen Vater- noch einen Elternurlaub anbietet. Die zwei Wochen sind jedoch bescheiden. 

In vielen Dörfern gehen die Restaurants ein. Finden Sie, dass die Politik dieser Entwicklung Gegensteuer geben soll? Zum Beispiel mit Subventionen? 
In kleinen Gemeinden ist das ein grosses Thema. Subventionen sind jedoch nicht das richtige Mittel, sonst würden wieder andere Anbieter konkurrenziert. Will ein Dorf ein Restaurant, sollte die Gemeinde dieses auch unterstützen. Zum Beispiel in dem der Dorfladen und die Gemeindeverwaltung zusammenspannen,  um gemeinsam ein Café zuführen. 

Weiterbildungen sollen vermehrt vom Bund unterstützt werden. Wie ist Ihre Meinung dazu? 
Ein grosses Engagement des Bundes bei der Weiterbildung befürworte ich sehr. Angesichts des rasanten technischen Wandels soll die Weiterbildung nicht alleine in der Verantwortung der Arbeitnehmenden bleiben. Entsprechende Vorstösse habe ich beim Parlament eingereicht. Das lebenslange Lernen muss noch stärker in unser Denken einfliessen. Deshalb fordere ich eine Erwähnung in der Bundesverfassung. Die Arbeitgeber dürfen aber nicht aus der Pflicht entlassen werden. Es sind gemeinsame Anstrengungen nötig. 

(Interview: Riccarda Frei)


Zur Person

Adrian Wüthrich ist Präsident und Geschäftsführer von Travail.Suisse, dem Dachverband der Arbeitnehmenden. Der 39-Jährige ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Da die Hotel & Gastro Union Mitglied von Travail.Suisse ist, sind ihm die Anliegen der Angestellten in der Gastronomie und Hotellerie vertraut. Zudem kennt Adrian Wüthrich die Arbeitsbedingungen aus erster Hand. Während des Gymnasiums arbeitete er jeweils sonntags und in den Ferien im Café Ascot in Madiswil/BE in der Küche. Er hätte sich auch eine Lehre als Koch vorstellen können, entschied sich dann aber doch für ein Studium als
Master in Public Management und Politik.