GaultMillau-Heller: «Wir tun etwas für die Gastro-Szene»

Sechsteilige Serie «Die Jagd nach Punkten und Sternen» –
Teil 3: Die Punkteverteiler.

Urs Heller ist seit 1996 Chefredaktor des Gourmetführers GaultMillau. (zvg)

Treibt der Druck wirklich Köche in den Freitod? Urs Heller verteilt seit Jahrzehnten «GaultMillau»-Punkte. Er glaubt nicht daran.

HGZ: Urs Heller, sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Suizid von Benoît Violier und seiner Arbeit als Küchenchef und Gastgeber im mit 19 GaultMillau-Punkten ausgezeichneten Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier? 

URS HELLER: Sein Tod hat mich erschüttert. Benoît Violier hatte Erfolg, war stolz auf seine Familie und auf seine Brigade, erzählte mir immer wieder begeistert von neuen Projekten. Druck? Ich finde die Diskussion etwas schräg. Violier wusste, was auf ihn zukommt. Er hat dies 18 Jahre lang gewissermassen aus der zweiten Reihe heraus beobachtet. Er wollte diesen Job. Er hat ihn hervorragend gemacht. Erstaunlich ist, dass das Restaurant bereits am Abend nach der Beerdigung wieder öffnete: Mit Brigitte Violier als «patronne» und Franck Giovannini als neuem Chef. Das «Hôtel de Ville» ist nach wie vor täglich ausverkauft.

Sie denken also nicht, dass Spitzenköche heute einem besonders hohen Druck ausgesetzt sind?

Nein. Jeder von uns hat heute bei der Arbeit mehr Druck, mehr Belastung als früher. Köche, die nach oben wollen, wissen, was auf sie zukommt. Harte Arbeit, lange Arbeitstage. Mir sind in der Kochszene in den letzten 15 Jahren drei Suizidfälle bekannt. Das sind drei zu viel. Aber: Solche traurigen Ereignisse gibt es in jedem Beruf.

Welche Auswirkungen beobachten Sie mehrheitlich nach der Vergabe Ihrer Punkte?

Vorwiegend positive. Wir beschreiben ja keine miserablen -Restaurants. Wir entdecken und fördern junge Talente, haben deshalb den Ruf, etwas für die Branche zu tun.

In der Schweiz gibt es über 28 000 Restaurants. Welche neuen Lokale besuchen Sie und Ihre Tester?

Unseren 45 Testern sollten in der überschaubaren Schweiz gute Restaurants eigentlich nicht entgehen. Eine gute Quelle sind die «GaultMillau»-Köche selbst: Sie versorgen uns grosszügig mit guten Tipps, vor allem, wenn sich einer ihrer Mitarbeiter selbständig macht. Auch Leser melden sich: Wir studieren dann erst mal die Speisekarte, die oft sehr aufschlussreich ist, und sehen weiter.

Wie viele davon werden neu in den «GaultMillau» aufgenommen?

Etwa die Hälfte davon erscheinen in der nächsten Ausgabe.

Wie gehen Sie bei einem Testbesuch vor?

Wir benehmen uns wie normale, anständige Gäste und melden uns an. 43 Mitarbeiter  testen anonym, mein Kollege Knut Schwander in der Westschweiz und ich sind bekannt. Branchen, Medien und Leser brauchen einen Ansprechpartner. Die Anonymität ist eine Vorgabe des Lizenzgebers. Ich könnte mir auch vorstellen, die Texte mit Namen zu zeichnen.

Worauf achten Sie besonders?

Mir ist eine klare Handschrift wichtig. Ich will die Leidenschaft des Kochs erkennen können. Und ich will spüren, dass er sich richtig Mühe gibt, auch bei einfachen Gerichten. In der Schweiz sind neun von zehn Tellern Spaghetti an der Grenze des Geniessbaren. Das ist bedenklich.

Wie wichtig ist das Aussehen des Tellers?

Wir benoten, was auf dem Teller liegt. Die Köche haben grosse Fortschritte gemacht: Heute wird glücklicherweise fast überall angerichtet und nicht mehr geschöpft. Kühne Konstruktionen sind nicht nötig. Ich mag es, wenn der Teller nicht überladen ist. Ambiente, Umgebung und Service beschreiben wir im Text.

Welche Voraussetzungen müssen Ihre Tester haben?

Sie müssen begeistert sein von der Gastronomie und sich durch ein breites Wissen zum Thema auszeichnen. Abgesehen von ihrer Tätigkeit als «GaultMillau»-Tester sollten sie viel auswärts essen, auch im Ausland. Denn der Vergleich ist sehr wichtig. Dann müssen sie in der Lage sein, das Erfahrene auf Papier bringen können. Daran scheitern viele.

Werden die Tester geschult?

Wir nehmen jährlich nur einen bis zwei neue Tester ins Team auf. Diese schicken wir nach einer ausführlichen Diskussion in Restaurants, die wir sehr gut kennen und schauen, ob sich ihre Erkenntnisse mit unseren decken. An der Notenkonferenz gehen wir alle Bewertungen und Texte nochmals durch.

Wie hat sich «GaultMillau» in den vergangenen Jahren verändert?

Ich fürchte, wir sind freundlicher geworden. Entspricht ein Betrieb nicht mehr unseren Erwartungen, nehmen wir ihn eher aus dem Guide als ihn zu zerreissen. Zudem erreichen wir ein grösseres Publikum. Am Tag des Erscheinens erreichen wir durch Berichterstattungen rund 3,5 Millionen Leser und Leserinnen.

Wie wird sich der Restaurantführer künftig verändern?

Wir werden unsere Online-Präsenz verstärken. Auf unserer Homepage wollen wir uns auch um Themen kümmern, die im Guide nicht vorkommen.

Apropos online: Was halten Sie von Bewertungsportalen wie Tripadvisor und Co.?

Nicht viel. Ich stelle fest, dass die Feedbacks sehr gegensätzlich sind. Die Kritik, die unkontrolliert ins Netz gelangt, ist oft sehr ruppig. Da kommt noch einiges Ungemach auf die Branche zu.

 

Urs Heller

Urs Heller (* 1953) ist im Nebenamt seit 1996 Chefredaktor des Gourmetführers GaultMillau Schweiz. Seit 2008 ist er Geschäftsführer Zeitschriften Schweiz der Ringier AG. Er entwickelte und lancierte für das Unternehmen neue Zeit- schriften wie Die Schweizer LandLiebe und leitet alle Lifestyle-Magazine der Schweizer Illustrierten.