Was bringt der Tunnel?

In den letzten zehn Jahren sank die Zahl der Logiernächte im Tessin um über eine halbe Million. Bringt die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels eine Trendwende?

  • Unter anderem für die Touristen bleibt die alte Gotthardbahnstrecke offen, wenn der neue Tunnel fahrplanmässig bedient wird. (Keystone)
  • Unter anderem für die Touristen bleibt die alte Gotthardbahnstrecke offen, wenn der neue Tunnel fahrplanmässig bedient wird. (Keystone)

Eine Fahrt ins Tessin ist heute vor allem eine Wahl der Qual: Mit dem Zug dauert die Fahrt von Luzern nach Lugano über zweieinhalb Stunden. Mit dem Auto sind es etwas mehr als zwei Stunden – sofern am Gotthard kein Stau ist. Zudem ist der Gegenverkehr im Gotthard-Strassentunnel nicht jedermanns Sache. Vielleicht spielt dies eine Rolle im Rückgang des Tessiner Tourismus. Seit 2007 sind die Logiernächte im Tessin um ganze zwanzig Prozent geschrumpft. Schweizweit betrug die Einbusse gerade mal zwei Prozent. Die Touristen kehren der «Sonnenstube» also in Scharen den Rücken. Tessiner Touristiker und Hoteliers klagen darüber, dass die dauernden Staumeldungen am Gotthard Leute davon abhalten, ins Tessin zu kommen.

Anfang Juni ist die offizielle Eröffnung des Gotthard-Basistunnels. Die Fahrt von Luzern nach Lugano ist dann 30 Minuten kürzer, dauert also noch rund zwei Stunden. Und die Tessiner Hoteliers setzen grosse Erwartungen in die Eröffnung.

Die HGZ hat einige Hoteliers gefragt, und alle hoffen, dass es mehr Logiernächte geben wird. Einige Hoteliers werden dafür ihre Werbung in der Deutschschweiz verstärken. Hoffnung setzt Tessin Tourismus auch auf den neuen Tunnel. «Die Bahnreise von Zürich nach Lugano wird deutlich weniger als zwei Stunden betragen, spätestens mit der Inbetriebnahme des Ceneri-Basistunnels 2020 und der ausgebauten Strecke Zürich – Arth-Goldau. Das entspricht einer Zeitersparnis für den Personenverkehr von bis zu 60 Minuten. So könnte das Tessin zu einem Nah­erholungsgebiet des Mittellandes avancieren. Denn dank des neuen Gotthard-Basistunnels liegt das Tessin so nah und so direkt vor der Haustür wie noch nie», erklärt Elia Frapolli, Direktor von Tessin Tourismus. «Das heisst, wir müssen dem Gast zeigen, warum es sich lohnt, ins Tessin zu kommen.»

Mit dem Slogan «Entdecke die andere Seite» ruft Tessin Tourismus deshalb nun in der Deutschschweiz dazu auf, die andere Seite des Tunnels, nämlich die Sonnenstube der Schweiz, aber auch die anderen Seiten des Tessins, die bisher weniger bekannten, zu entdecken.

Zwei Millionen Franken für die Werbung

Tessin Tourismus hat vom Kanton ein Sonderbudget von zwei Millionen Franken bekommen, um anlässlich dieses Ereignisses die touristische Vermarktung zu intensivieren. «Wir haben hierfür einen Marketingplan erstellt, der Ende März mit einer Kooperation zur Eröffnung einer Sonderausstellung im Verkehrshaus in Luzern zum Thema Gotthard begonnen hat», sagt Frapolli. Enden werde er mit grossen Angebotskampagnen im Jahr 2017, wenn die neue Bahn fahrplanmässig von der SBB bedient wird.

Hierfür gelte es, konkrete Angebote inklusive Bahnfahrkarte und touristischer Angebote zu schaffen, um mehr Logiernächte zu generieren und Touristen zu einem Aufenthalt im Tessin zu animieren. Mit der Inbetriebnahme der Bahnstrecke am 11. Dezember 2016 plant Tessin Tourismus deshalb Kampagnen mit Spezialangeboten, die Tessin Tourismus unter anderem in Kooperation mit Migros und Raiffeisen für die 2,8 Millionen Inhaber der Migros Cumulus Card oder für die 1,8 Millionen Mitglieder der Schweizer Raiffeisenbank auflegen wird.

Wie erwähnt, wurde im Verkehrshaus in Luzern am 23. März 2016 eine Sonderausstellung eröffnet. Erwartet werden in den nächsten Monaten rund 500 000 Besucher, die dort alles rund um den längsten Tunnel der Welt erfahren können. «Tessin Tourismus nimmt hier auf innovative Weise die Besucher mit auf eine Reise durch den Gotthardtunnel ins Tessin», so Frapolli. Mit der im Verkehrshaus installierten Spezialbrille Oculus Rift (Virtual-Reality-Brille) können Impressionen des Baus der beiden Gotthard-Eisenbahntunnel und Tessiner Sehenswürdigkeiten in 3D-Ansicht erlebt werden.

Im Herbst finden dort ausserdem Tessiner Tage statt, bei denen man das Tessin nicht nur sehen, sondern auch schmecken kann. «Wir wollen mit dieser Kooperation die Gäste sozusagen an der Haustür abholen und ihnen Lust auf eine Reise ins Tessin machen», sagt Frapolli. Dasselbe gilt für die Präsenz am «Züri Fäscht». Auf dem mit zwei Millionen Besuchern wichtigsten Volksfest der Schweiz Anfang Juli präsentiert sich das Tessin mit einem Tunnelkonstrukt. Zudem mit einem vielfältigen Programm, das dazu einlädt, «die andere Seite» zu entdecken und sich inspirieren zu lassen. Auch an den Bahnhöfen in Zürich und Basel wird das Tessin erlebbar gemacht.

Zwischen August und September werden in acht Restaurants der Firma Candrian Catering Tessiner Spezialitäten serviert. Ob dies die erhoffte Wirkung hat, wird sich zeigen.

Fürs Wallis hat sich der Lötschbergtunnel nur teilweise gelohnt

Ein Blick ins Wallis lohnt sich hier. 2007 wurde der erste Neat-Tunnel, der Lötschberg (LBT), eröffnet. Die Bahnfahrt ins Wallis verkürzte sich von Bern aus auf unter zwei Stunden. Der Sinkflug bei den Logiernächten liess sich aber nicht aufhalten. Seit 2007 hat das Wallis über 15 Prozent der Logiernächte verloren (siehe Grafik). «Seit Eröffnung des Tunnels in 2007 hat insbesondere die Anzahl der Tagesgäste zugenommen», sagt Matthias Summermatter, Corporate Publishing/Wallis Promotion. Wie eine Studie des Bundesamtes für Raumentwicklung aus dem Jahre 2012 zeigt, wurde das Wallis aufgrund des neuen Tunnels in 2011 von 55 000 bis 82 000 Personen mehr besucht. Die LBT-induzierten Übernachtungen für das Wallis dürften laut der Studie in einer Bandbreite von jährlich 40 000 bis 105 000 Übernachtungen liegen. Das entspricht 0,9 bis 2,5 Prozent aller erfassten Logiernächte im Wallis.

Allerdings haben die zusätzlichen Übernachtungen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kantons nicht erhöht, sondern zu deren Erhalt in einem Zeitraum von insgesamt sinkenden Übernachtungszahlen beigetragen. Weiter ergibt sich für das Wallis laut Studie und vorsichtiger Schätzung, dass durch den Lötschbergtunnel eine touristisch induzierte Wertschöpfung in Höhe von rund 9 bis 19 Millionen Franken pro Jahr entsteht.

Also konnte im Wallis mit dem Lötschberg-Tunnel der Sinkflug im Tourismus nur leicht gebremst werden. Da erwarten die Touristiker und Hoteliers im Tessin viel mehr: «Natürlich wünschen wir uns, dass die bequeme Bahnreise ins Tessin eine Alternative für diejenigen ist, die ins Flugzeug steigen und in den Süden fliegen. Somit erhoffen wir uns auch einen Anstieg der Logiernächte», sagt Jutta Ulrich, Medienverantwortliche bei Tessin Tourismus. Hoffen darf man immer, und vielleicht nützt es ja. Laut Agnese Broggini, Gastgeberin im Ristorante ­Stazione in Intragna, ist das der Fall: «Seit 51 Jahren darf ich hoffen und meine Hoffnung hat mich noch nie im Stich gelassen.»