Michèle Stocco-Dolder ist leidenschaftlich gerne Köchin – doch eine ausgewogene Work-Life-Balance ist ihr wichtig. Sie rät zu mehr Mut für neue Konzepte.
In einer kleinen gemieteten Küche in Biel brät Michèle Stocco-Dolder Champignons an. Ab und zu wendet sie die Pilze mit Kochstäbchen. Dabei läuft die Kamera, damit ihre Kunden auf Facebook live zuschauen können, wie ihre Bento-Box entsteht. «Japan hat mich schon immer fasziniert», erklärt die 41-jährige Köchin. Vor 15 Jahren begann sie mit der japanischen Kampfkunst Aikidō und beschäftigte sich vermehrt auch mit der japanischen Küche. «Dort wird sehr aufs Detail geachtet, das finde ich spannend. Mit relativ wenig Zutaten sind wahre Geschmacksexplosionen möglich.»
Die japanische Küche war es dann auch, die Michèle Stocco-Dolder zurück zum Kochberuf brachte. Denn nach der Kochlehre im Hotel Sternen in Belp/BE merkte sie schnell, dass ihr das Kochen zwar Spass machte, die Arbeitsbedingungen allerdings weniger. «Die langen Tage, das Arbeiten mittags, abends und am Wochenende – das konnte ich mir nicht bis zur Pensionierung vorstellen», erzählt das skv-Mitglied. «Wir haben nur einen Körper, die Gesundheit sollte immer Vorrang haben.»
Doch auch mit verschiedenen kaufmännischen Stellen wurde Michèle Stocco-Dolder nicht glücklich. Die Arbeitszeiten stimmten zwar, doch die Leidenschaft im Beruf fehlte. So begann sie, ihr Wissen über die japanische Küche zu erweitern und Kochkurse zu geben. Anfang 2016 entstand die Idee eines Bento-Box-Lieferservice in der Region Biel. Schritt für Schritt begann sie, die Idee zu entwickeln. Nachdem eine geeignete Küche gefunden war, konnte der Lieferdienst im April 2017 lanciert werden, mittlerweile arbeitet sie mit einer zweiten Köchin. Michèle Stocco-Dolder hat sich bewusst für ein Abo-System entschieden. «Das System ist praktisch, denn so weiss ich genau, wie viele Boxen ich befüllen muss. Das erleichtert mir die Planung und reduziert unnötigen Food Waste.» Jeweils am Mittwoch oder Donnerstag um 12 Uhr erhalten die Kunden ihre Bento-Box, jede elfte Lieferung ist gratis.
Ausgeliefert werden die Boxen von Michèle Stocco-Dolder selbst. Derzeit noch mit dem Auto, Ziel ist aber die Anschaffung eines elektrischen Cargo-Velos. Wer möchte, kann die Box auch selbst in Biel abholen und die fünf Franken Liefergebühr sparen. Die Box selbst kostet 20 Franken und beinhaltet Reis oder Nudeln, Fisch, Fleisch oder Tofu, ab und zu ein Ei und dazu Gemüse in verschiedenen Farben. Vergangene Woche gab es beispielsweise Reis mit Miso-Lachs, Weisskohl, Champignons de Paris auf japanische Art, Karottensalat und Edamame mit Hüttenkäse. Rund zehn Kunden pro Tag hat Stocco-Dolder bisher, zwanzig könnten es maximal sein. «Die Rückmeldungen sind sehr positiv, daher bin ich zuversichtlich, dass der Service weiterwachsen wird», sagt sie.
Michèle Stocco-Dolder hat gelernt: «Wenn es mir gut geht, mache ich auch meine Arbeit gut.» Jahrelang ging sie trotz Erkältungen zur Arbeit und ignorierte ärztliche Empfehlungen, kürzer zu treten. Heute setzt sie sich für andere Arbeitszeitmodelle ein und coacht Köche, die sich mehr Zeit für sich nehmen wollen. «Es gibt vereinzelte Betriebe, welche eine Vier-Tage-Woche eingeführt haben. Die Köche sind weniger oft im Betrieb, dann aber leistungsfähiger. Das muss die Zukunft sein», ist sie überzeugt. Aber auch kleinere Anpassungen im Alltag können wirkungsvoll sein: «Wer wenig Zeit hat, kann sich auch einfach jeden Tag fünf Minuten Zeit nehmen, um kurz zu meditieren und zur Ruhe zu kommen. Wer das konsequent macht, kann auch mit kleinen Schritten mehr Lebensqualität erreichen.»
Sie selbst setzt neben dem Bento-Box-Lieferservice unter anderem auf Online-Kochkurse: «Das Internet gibt uns viele neue Möglichkeiten, die Zeit besser einzuteilen.» Jungen Köchen rät sie, die sozialen Medien für sich zu nutzen. «Auf Social Media kann man sich zur Marke machen. Wer authentisch rüberkommt und sich nicht nur als Koch, sondern auch als Typ gut verkauft, kann sich eine grosse Reichweite schaffen.»
Zusätzlich zu ihrem Lieferservice plant Michèle Stocco-Dolder derzeit einen Konzept-Store, in dem sie Bento-Boxen und japanische Lebensmittel wie Sake, Sojasauce, japanische Schwarzwurzeln oder Gurken anbieten will. Den Lieferservice möchte sie auf drei Tage in der Woche ausweiten. Aber eines ist klar: Ihre hart erarbeitete Work-Life-Balance gibt sie nicht wieder her – die Zeit für sich ist ihr zu wichtig.
(Angela Hüppi)