Heute isst du in der Küche! Einst eine Strafe für Kinder – nun ein Erfolgskonzept für Erwachsene. Das «Mémoire» in Zürich macht es vor.
Tisch vier? Moment, nein, da warten wir noch einen Augenblick», entscheidet Chris Züger, ehe er einen Bissen vom Löwenzahnblütensorbet probiert und dieses mit «wow, sehr lecker» kommentiert. Kaum heruntergeschluckt, steht ein Gast vor ihm. Die Frau deutet auf das Fleisch in der Pfanne, es ist das Bürgermeisterstück vom Omoso Jungrind. Sie will wissen, wie der butter-zarte Second Cut zubereitet wird.
Chris Züger ist der Chefkoch im «Mémoire». Das Lokal im Zürcher Löwenbräuareal wurde Ende September 2017 in Betrieb genommen. Wo früher Rohstoffe für die Bierproduktion gelagert wurden, entstand ein unterirdisches Restaurant. Eines, das Züger anfangs gar nicht pachten wollte. Nachdem er 2016 seinen Job als Küchenchef im von der SV Schweiz betriebenen UBS-Kundenrestaurant Turicum an der Zürcher Bahnhofstrasse kündigte, wollte er sich seinen vielseitigen Gastro-Projekten widmen. Züger verwirft die Hände: «Ich wollte nie ein Restaurant führen.»
Ein Freund bestand darauf, er müsse ihm diesen Keller zeigen. So stiegen sie gemeinsam die Treppe hinunter und liessen ihrer Fantasie freien Lauf. «Wir stellten uns vor, wo die Küche hinkommen würde und überlegten uns, wie das mit dem Restaurant funktionieren würde», erinnert sich Chris Züger. Schnell wurde den beiden klar, dass Küche und Restaurant hier eins sein sollen. Verbindung statt Trennung. «Wir glaubten daran, wussten damals aber noch nicht, dass davon nicht nur die Gäste, sondern auch wir Köche so stark profitieren werden.»
Geduldig erklärt der Chefkoch der wissbegierigen Frau das Fleischgericht. Ohne ihre Kleider zu bekleckern, lässt er ein paar Löffel vom dunkelbraunen Jus auf den weissen Teller tropfen. Dann drapiert er die Tranchen des rosa Muskelfleischs aus dem Hause Jumi darauf, ehe er dem Gericht mit Wurzelgemüse und knackigen Blättern von Biobauer Stefan Brunner einen farbigen Touch verleiht. Staunend nickt die Frau. Mit dem Teller in der Hand begleitet Chris Züger sie an ihren Platz.
Der Hauptgang ist vielleicht das Paradebeispiel für ein stimmiges Gericht. Der Chef, das Lokal, das Gericht – sie alle sprechen dieselbe Sprache. Sie sind zugänglich, strahlen eine Prise Coolness aus. Weder das Interieur noch die Speisen wollen auf den ersten Blick glänzen. Eine Pinzette sucht man in der Küche vergebens, der Koch überrascht lieber mit einem Bürgermeisterstück, als Edelstücke wie Filet und Entrecôte zu servieren.
Die Komponenten liegen so entspannt auf dem weissen Teller, wie das Küchenteam bei der Arbeit wirkt. Die Wände sind kahl, ein paar wenige Blumen von Fritz Schneiters «Blueme under de Böge» sind das Höchste aller Deko-Gefühle. Von den anfänglich geplanten Grünpflanzen in der Küche sah Chris Züger letztlich doch ab. Tageslicht und eine schöne Aussicht fehlen im untergeschössigen «Mémoire» selbstredend.
Das Gericht ist grossartig. Das Fleisch zergeht schier auf der Zunge, das Gemüse hat den perfekten Biss und ist so frisch, wie es die Farben erhoffen lassen. Um die Sauce komplett aufzuwischen, bittet man den Service um eines dieser leckeren, hausgebackenen Maisbrötchen, die es schon zum Apéro gab. Für den passenden Wein ist Paul Blume zuständig. Seine Begeisterung für die Biodynamie und für möglichst natürlich produzierte Weine kann er kaum verstecken, wenn er dem Gast die selbst importierten Tropfen präsentiert. «Für mich muss die Geschichte des Weins stimmen, aber es soll eine gewisse Lockerheit dabei sein», erläutert Paul Blume. «Ich suche nicht nach jenen Weinen, die extrem ‹mostig› sind, wie das andere Naturwein-Fans oft tun.» Tolle Produkte gepaart mit einem Schuss Lockerheit – auch die Weinphilosophie passt zum Lokal.
Als Chris Züger das Restaurant Mémoire vor acht Monaten eröffnete, war der Respekt vor den diversen Unbekannten gross. Wollen die Leute unterirdisch essen gehen? Wie kommt es beim breiten Publikum an, dass man quasi in der Küche sitzt? Wie lässt es sich arbeiten, wenn man bei jedem Handgriff von zahlreichen Augen beobachtet wird? Wie funktioniert die Kommunikation im Team unter diesen Umständen?
Von der ersten Woche an war das Lokal stets gut besucht, oft gar frühzeitig ausgebucht. «Kind, zur Strafe isst du heute in der Küche», hiess es früher noch. Heute hat sich das Blatt gewendet. Im «Mémoire» ist jeder Tisch ein Chef’s Table. Jeder isst in der Küche. Vorne arbeitet die Brigade, hinten stehen die grossen Kühlschränke der Mettler Gastrotechnik AG und in der Mitte sitzen bis zu 42 Gäste auf Designerstühlen von Egon Eiermann. Chris Züger: «Viele reservieren mittlerweile sogar bewusst die vordersten Plätze.» Die Tische werden aus stilvoll-rustikalem Negresco und Granit hergestellt und stammen von der Real-Stein AG. Nur wer sich auskennt, weiss, dass auch die Deckenleuchten Liebhaber-Objekte sind. Hier wird auf die zeitlosen Sento-Lampen des Münchner Herstellers Occhio gesetzt.
Das Arbeiten vor dem Gast ist sich der Küchenchef von anderen Projekten längst gewohnt. Auch mehrere seiner Mitarbeiter kochten bereits früher mit ihm. «Dass uns zugeschaut wird, macht uns nicht nervös», sagt Chris Züger, während er ein Stück Fleisch auf den Green-Egg-Grill legt. «Wichtig ist der Umgangston miteinander.» Ein lautes Wort liegt nicht drin. Schon ein aggressiver Blick könnte der Stimmung im Restaurant schaden. «Anderseits haben wir hier das Glück, dass wir es miterleben dürfen, wenn die Gäste unsere Gerichte geniessen. Wir saugen die gute Atmosphäre auf», erklärt Sous Chef Manuel Schaub, während er vom grossen Schinken hauchdünne Scheiben abschneidet. Das aromatische Stück von der Simplon-Südseite bezieht das «Mémoire» bei Fabian Molinari. Die Schneidekunst erlernte das Küchenteam anlässlich eines Workshops bei Michael Dünner, dem einzigen zertifizierten Maestro de Contador in der Schweiz.
Gerne übernimmt Chris Züger gleich noch Service-Aufgaben und geht mit dem Teller an den Tisch. «Es ist wie beim Wein: Wenn die Gäste interessiert wirken, erkläre ich ihnen das Gericht bis ins letzte Detail. Das ist für mich unheimlich schön, denn ich schätze die Produkte, die wir verwenden sehr.» Hat er aber das Gefühl, das Publikum wolle einfach nur in Ruhe geniessen oder er würde mit seinen Erklärungen ein Gespräch oder die intimen Momente eines Paars stören, stellt er die Teller nur mit einem «En Guete» auf den Tisch.
Die anderen Küchenmitarbeiter hingegen hätten zu Beginn gezögert und den direkten Kontakt mit dem Gast gemieden. Züger: «Das ist verständlich. Es ist für alle eine neue, einzigartige Situation. Ich habe deshalb auch keinen dazu gedrängt, an die Tische zu gehen. Das bringt nichts, wenn man sich dabei unwohl fühlt.» Allmählich schwand die Unsicherheit und mittlerweile bewegen sich alle Mitarbeiter aus ihrer angestammten Position heraus.
«Tisch vier ist jetzt bereit für den Hauptgang», sagt der Chef einem seiner Köche nach einem Blick durchs Restaurant. «Wir können schicken.» An Tisch vier sitzen zwei Männer und zwei Frauen. Sie kriegen zweimal den Teller mit dem Bürgermeisterstück, einmal die kurz angeflämmte Lachsforelle mit Meerrettich, Schnittlauch und einer Polenta, die schon am Nachmittag angesetzt wurde, sowie einmal die Gnocchi mit Spargel, Bärlauch, Pilzen und Rucola. Während der Koch die Gerichte vorstellt, huscht Chef Züger ein Lächeln über das Gesicht. «Es ist eine Freude, die ‹gluschtigen› Blicke der Gäste zu sehen und das erste ‹Mmmmmh› zu vernehmen, wenn sie ins Fleisch oder in eine Beilage beissen.»
(Benny Epstein)
Restaurant Mémoire
Limmatstrasse 254
8005 Zürich
Tel. 076 580 10 57
www.restaurantmemoire.ch