Geisterküche ohne Restaurant

Immer mehr Gastronomen satteln komplett auf Heimlieferung um. Ghost Kitchen heisst der Trend, der hohe Flexibilität im Angebot und geringere Betriebskosten verspricht. In Laax/GR produziert eine Geisterküche für vier virtuelle Restaurants.

  • Ab 14 Uhr läuft die Ghost Kitchen der Laax Hospitality AG unter Volldampf. In einem Container bereiten drei Köche für vier virtuelle Restaurants Speisen zu. (Filipa Peixeiro)
  • Burger werden in rezyklierbaren Boxen abgepackt und mit dem eigenen Lieferdienst an die Besteller ausgeliefert.
  • An einer Abholstation schnappen sich Velokuriere die Gerichte. (ZVG)
  • Marcel Wissmann ist eidg. dipl. Küchenchef und Gastronom und führt in Wabern/BE die Beratungsfirma Food & Technic.
  • Michael Stutz ist diplomierter Hotelier-Restaurateur und ist seit Dezember 2020 Geschäftsführer der Laax Hospitality 3.0 AG.
  • Fabian Müller, Student der EHL Passugg, ist Delivery Coordinator und operativer Betriebsleiter der Ghost-Restaurants.

Not macht erfinderisch. Mit Take-away und Home-Delivery halten sich derzeit viele Betriebe über Wasser. Für einige ist das keine Zwischenlösung, sondern eine neue Haupteinnahmequelle. Und die heisst Ghost Kitchen, zu Deutsch Geisterküche, in der, der Name ist etwas irreführend, immer noch lebendige Köche zugange sind. Alles, was es dafür braucht, ist eine Küche an zentraler Lage, ein leckeres Food-Angebot, einen eigenen oder externen Lieferdienst und einen digitalen Auftritt. Das neue Modell bietet gegenüber den klassischen Gastrokonzepten interessante Vorteile. Ohne Gastraum und Service, mit weniger Mitarbeitenden und einer kleineren Küche sind die Kosten deutlich tiefer. Die Geisterküche kann bei Trendwenden rasch das Angebot wechseln und ist zudem standortunabhängig.

Weltweiter Boom von Ghost Kitchens

In China sind in kürzester Zeit 7500 solcher Geisterküchen entstanden, im Silicon Valley und in Grossstädten der USA liegt deren Zahl bei etwa 1500. Genutzt werden stillgelegte Restaurantküchen, leere Garagen und sogar Parkplätze, wo mobile Kleinküchen temporär stehen. Experten wie Michael Schaefer, Global Lead Food and Beverage bei Euromonitor, schätzen, dass das Segment Ghost Kitchen wegen der Corona-Pandemie bald einen Wert von einer Milliarde Dollar erreichen wird.

Noch fristet das Geschäftsmodell in der Schweiz ein Nischendasein. Die Wiesner Gastronomie und die Tavolago Gastronomie eröffneten 2020 in Basel, Bern, Zürich und Luzern in ehemaligen Restaurantküchen oder in Eishallen Ghost Kitchens für Heimlieferungen. Die erste Geisterküche in den Bergen ging Mitte Dezember vergangenen Jahres in Laax/GR in Betrieb. Und zwar dort, wo man es kaum vermutet: Nicht in einem geschlossenen Lokal oder Hotel, sondern in einem Hinterhof, genauer gesagt in einem Lager und einer Einstellhalle für Schneeräumungsfahrzeuge. Dort machte die Weisse Arena Gruppe (WAG) Platz für zwei Baucontainer, einen für Trocken- und Kühllagerung von Lebensmitteln, den anderen für eine Fertigungsküche. Letztere mit allem Drum und Dran: Induktionsherd, Sous-vide-Wasserbäder und Kombidämpfer. Einrichter der beiden Baucontainer ist die Stutz Grossküchen AG in Domat/Ems/GR. Die WAG ist nicht nur Liegenschaftsbesitzerin, sondern auch zusammen mit der Zürcher Hotel- und Gastrobetreiberin Gastgeber 3.0 Mitgründerin der Joint Venture Laax Hospitality 3.0 AG. Geschäftsführer der neuen Firma ist Gastroprofi und Hotelier Michael Stutz, der mit Digital Marketer Guli Brentel die Idee zur ersten «Data-driven Ghost Kitchen» in den Alpen entwickelte.

Virtuelle Restaurants auf der Inside Laax App

Seit dem Start am 12. Dezember 2020 läuft die Geisterküche mit Volldampf. «Zwischen Weihnachten und Neujahr lieferten wir ohne Ruhetag aus», sagt Geschäftsführer Michael Stutz. Verfügbar ist das Ghost-Kitchen-Angebot auf der von der WAG betriebenen Inside Laax App, auf der Feriengäste nun nicht nur Lifttickets buchen, sondern auch in vier digitalen Restaurants stöbern können. Aufgeschaltet sind «Burger, Baby!», «Die Hühnerei» mit Pouletspezialitäten, «Da Giovanni» mit Pizza Napoletana und passende Weine sowie «z’Alp» mit allem, was die Alpenküche ausmacht: Pizokel, Capunet (Spinatspätzli), aber auch schweizweit Typisches wie Rindsbäggli mit Kartoffelstock und Jus. Die Gerichte können von mittwochs bis sonntags ab 17 bis 21 Uhr bestellt werden. Bezahlt wird ausschliesslich bargeldlos via App.

«Marketing und eine durchdachte Fertigung sind das A und O.»


Gut einen Monat nach dem Start der Ghost Kitchen auf der Inside Laax App zieht Michael Stutz eine erste positive Bilanz. Zwar hinkt die Zahl der Bestellungen (im Schnitt 30 am Tag unter der Woche und 100 jeweils am Samstag und Sonntag) hinter den Erwartungen her, dafür glänzt man mit einem Durchschnittsbon pro Bestellung von über 70 Franken, ohne Mehrwertsteuer und Liefergebühr. «Das ist höher, als wir budgetiert haben», freut sich Michael Stutz. «In Zürich bestellen meist Single-Haushalte das Essen. Bei uns in Laax sind es oft mehrere Gäste in einer Ferienwohnung, die Speisen ordern», so die Erfahrungen des Geschäftsführers der Laax Hospitality 3.0 AG. Im Gegensatz zu Metropolen, wo Player wie Eat.ch und Uber Eats den Liefermarkt dominieren, setzt die Laax Hospitality 3.0 in ihrem Einzugsgebiet von rund 20 000 Ein- und Zweitheimischen auf eine eigene Crew. Zum Fahrer-Pool gehören insgesamt 15 Mitarbeitende, meist bei der WAG angestellte Ski- oder Snowboardlehrer, die abends auf Stundenlohnbasis im Minimum zu dritt für die neue Laaxer Geisterküche unterwegs sind. Die Auslieferungen erfolgen mit E-Cars, die sonst im Shuttle-Service der WAG im Einsatz sind. «Nachhaltigkeit ist neben Food-Qualität bei uns ein grosses Thema», sagt Michael Stutz. Alle Speisen werden frisch zubereitet und in rezyklierbaren Kunststoff-Boxen verpackt. Für den Transport kommen Styropor-Behälter zum Einsatz. Bei Langdistanzen werden solche mit Aktivwärmung verwendet. «Wir suchen noch nach einer Lösung für mehrfach verwendbare Verpackungen und Geschirr», so Michael Stutz.

Die Liefergebühr beträgt fünf bis maximal 15 Franken

Wenn Gerichte und Getränke ins zur WAG gehörende «Rocksresort» geliefert werden, beträgt die Gebühr lediglich fünf Franken, für alle anderen Lieferungen innerhalb von Laax sowie nach Flims und Falera werden zehn Franken verrechnet. In weiter entfernte Dörfer wie Sagogn und Trin kostet der Lieferservice 15 Franken pro Bestellung.

In der Geisterküche selbst stehen drei Mitarbeiter im Einsatz: ein Chefkoch, ein Pizzaiolo und eine Hilfsköchin. Die Mise en place beginnt um 14 Uhr, der Service um 17 Uhr. In der Küche gilt: Die Speisen müssen mit möglichst wenigen Handgriffen zubereitet werden können, sie sollen lange heiss bleiben und gut aussehen. Täglich vor Ort ist Fabian Müller. Der Student der EHL Hotelfachschule Passugg fungiert als Delivery Coordinator und ist operativer Betriebsleiter der vier Ghost-Restaurants. Er ist für die Lebensmittelbestellungen zuständig, steht am Pass und checkt jedes Gericht vor der Auslieferung. Zudem kümmert er sich um die Vermarktung der vier Restaurants auf Social Media.

Traditionelle Restaurants leben vom Service und wie gut er sich um Gäste kümmert. Der Ruf einer Geisterküche hängt vom digitalen Auftritt und von Online-Rezensionen ab. «Jedes unserer vier Restaurants ist auf der Inside Laax App prominent platziert, hat eine eigene Webseite und einen Instagram-Account. «Es geht um ein cooles Branding, aber auch um Emotionen. Wir wollen das klassische Restauranterlebnis auf eine digitale Stufe heben», sagt Michael Stutz. In Zukunft werde der Gast nach der Bestellung via Handy den Kochprozess mitverfolgen können. Für jedes Restaurant soll es zudem die passende Musik geben, abrufbar per QR-Code.

Geht es nach Michael Stutz, ist Laax erst der Anfang. «Unser Konzept ist skalierbar. Ich könnte mir gut vorstellen, das Modell auch in anderen Destinationen aufzuziehen.»

(Jörg Ruppelt)


Informationen

www.gastgeber30.ch und www.weissearena.com


Marcel Wissmann «Für Betriebe ist das ein Befreiungsschlag»

Marcel Wissmann, haben die Ghost Kitchens das Potenzial, bald eine neue Gastronormalität zu werden?
Marcel Wissmann: Ja, denn die aktuelle Covid-19-Situation hat zur Folge, dass viele Gastronomen dazu gezwungen sind, das bestehende Geschäftsmodell kritisch zu hinterfragen. Der Lockdown kann auch für einen Teil der Betriebe ein Befreiungsschlag sein. Die Chance ist gross, dass sich Ghost Kitchens im Markt nachhaltig etablieren werden.

Wo sehen Sie die Stärken einer Küche ohne Gäste?
Ganz klar in der kostengünstigeren Struktur mit Konzentration auf Produktion. Auch Mischformen sind denkbar, also die Ghost Kitchen als ergänzende Dienstleistung, um Schwankungen im herkömmlichen Restaurant auszugleichen und sich noch fokussierter auf die sich ändernden Kundenbedürfnisse ausrichten zu können.

Und wo sehen Sie Schwächen?
Eine Herausforderung ist sicherlich die Positionierung, sprich der Bekanntheitsgrad. Es braucht Investitionen ins Marketing. Idealerweise zieht man hier Spezialisten hinzu, um sich auf den richtigen Plattformen sichtbar zu machen.

Der Aufbau eines eigenen Lieferservice ist nicht billig.
Ja, das ist eine grosse Herausforderung. Eine Zusammenarbeit mit einem bereits vorhandenen Lieferservice ist sicher eine gute Alternative, denn dieser verfügt über interessante Kundenadressen. Ebenfalls zu beachten ist die Kalkulation der Lieferungen. Und dann stellt sich noch die Frage, wie die Produktqualität im Lieferprozess erhalten bleiben kann. Fragen nach der Verpackung sind zu klären.

Hand aufs Herz, umsetzbar ist das alles nur für Big Player.
Ich denke nicht. Die Kostentreiber in der Gastronomie sind Personalkosten, Miete, Betriebsaufwand, Finanz- und Anlagekosten. Die Personalkosten reduzieren sich, da kein Lokal mehr zu betreiben ist, das häufig schwankenden Auslastungen ausgesetzt ist. Im Produktionsbetrieb können neue Arbeitsmodelle realisiert werden, welche sich positiv auf die Personalkosten auswirken.

Also doch etwas für den mittelständischen oder Kleinbetrieb?
Ja, denn auch die Miete kann je nach Objekt ohne Gästebereich reduziert werden. Auf einer kleinen Fläche mit wenigen Geräten ist je nach Angebot ein relativ hoher Ausstoss realisierbar. Durch eine deutlich bessere finanzielle Ausgangslage kann gegenüber der klassischen Gastronomie auch ein Payback in kürzerer Zeit erzielt werden. Die Finanzierbarkeit ist deutlich besser als bei herkömmlichen Konzepten.

Sind Ghost Kitchens auch für Heime und Spitäler denkbar?
Ja, es besteht ein grosser Bedarf an Modellen für die Altersverpflegung, auch bezüglich der unterschiedlichen Kostformen. Ich bin gespannt, was die Zukunft bringt.


Die «Kitchen Republic» kocht nur zentral

Die Wiesner Gastronomie bereitet in Geisterküchen Sushi und Wok-Gerichte für Heimlieferungen zu.

Basel, Bern und Zürich heissen die ersten Städte, die zur neuen «Kitchen Republic» gehören. Unter «Kitchen Republic» vereint die Wiesner Gastronomie bestehende Food-Konzepte wie «Nooch Asian Kitchen», «Negishi Sushi Bar» und «Poke Nation» für das Online-Geschäft. Gerichte der Restaurantmarken werden neu auf Bestellung für Take-away und Heimlieferung zubereitet und mit Velokurieren ausgeliefert. Die Wiesner Gastronomie nutzt dafür nicht nur ihre bestehenden Restaurantküchen, sondern hat zwei neue Küchen in Betrieb genommen, deren Restaurants wegen Corona aufgeben mussten. So hat das Unternehmen in Bern die Keller-Küche eines ehemaligen chinesischen Lokals neu eingerichtet. In Zürich-West ist es eine geschlossene Küche der Desperado-Kette. Laut Co-Geschäftsführer Daniel Wiesner sind die neuen Geisterküchen topausgelastet. 15 neue Mitarbeitende habe man eingestellt. Demnächst soll für «Kitchen Republic» in Uster/ZH Standort Nummer vier dazukommen. Und mit «Angry Chicken» ist sogar eine weitere Geisterküchen-Marke in Vorbereitung, diesmal mit Lokal.