Nach 49 Jahren geht der Maître d’hôtel des Hotels Gstaad Palace in Pension. Dass er so lange geblieben ist, hat seinen guten Grund.
Gildo Bocchini ist in seinem Element. Mit prüfendem Blick wandert er durch die Tischreihen der Hotelterrasse, rückt da ein Glas zurecht, dort ein Messer. Sein Anzug sitzt akkurat, blütenweiss ist das Hemd, knitterfrei sein schwarzer Anzug. Tadellos gebunden ist die schwarze Fliege. Verlegen zupft er an derselben und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. «Früher mussten wir die Fliege noch jeden Tag selber binden, doch heute hat sie einen Gummizug, da kann nichts schiefgehen.» Die Hemdkragen waren damals ebenfalls noch steif, doch das habe sich geändert und sei viel benutzerfreundlicher geworden. Nicht nur der Anzug hat sich in Gildo Bocchinis langer Berufslaufbahn verändert, auch seine Funktionen haben es. Gerne erinnert er sich an den ersten Arbeitstag. «Ich kam mit einem italienischen Kollegen für eine Saison hierher», so Bocchini. «Bereits am ersten Arbeitstag im Jahr 1968 beeindruckte mich die tolle Kollegialität unter den Mitarbeitern.»
Eigentlich plante Bocchini, nur für eine Saison im «Gstaad Palace» zu bleiben. Dann hängte er noch eine weitere an, dann noch eine und noch eine. Aus den Saisons wurden Jahre, aus den Jahren Jahrzehnte. «Die Zeit verging im Flug. Das Arbeitsklima ist bis heute einzigartig geblieben», so Bocchini. «Wir sind wie eine grosse Familie. Das gefällt mir.»
Das «Gstaad Palace» beschäftigt im Sommer 190 Mitarbeiter, im Winter 300. Viele von ihnen sind dem Haus sehr lange treu. Erst im Frühjahr gingen der Küchenchef Peter Wyss und sein Stellvertreter Hugo Weibel nach fast 40 Jahren in Pension. «Die einen bleiben nur für eine Saison, andere fast ihr ganzes Leben», so Bocchini.
Diejenigen, die lange bleiben, machen intern Karriere wie Gildo Bocchini. Einst fing der Absolvent der Hotelschule in Padua und Mitglied des Berufsverbandes Restauration bvr der Hotel & Gastro Union als Mitarbeiter in der Bar und im Nightclub Greengo an. «Damals spielte im Nachtklub noch eine Live-Kapelle, unter anderem war auch die Pepe-Lienhard-Band dabei», erinnert sich Bocchini. Vor 27 Jahren übernahm er die Stelle als Maître d’hôtel. Zu seinem Bereich gehören insgesamt fünf Restaurants. Seither ist er dort stets präsent, immer an der Front bei den Gästen und dennoch diskret im Hintergrund. Er hat seine Augen überall, immer umspielt ein zufriedenes Lächeln seine Lippen. «Ich habe viel erlebt, habe unzählige Stunden gearbeitet und dabei nie auf die Uhr geschaut», erzählt er.
Spannende, tolle Jahre seien es gewesen. Vieles habe sich im Beruf verändert. Die heutigen Restaurantleiter würden viel mehr Zeit vor dem Computer verbringen, er selber sei in erster Linie beim Gast. Und: «Früher wurden Portionen serviert, wir haben viel tranchiert und flambiert. Dieses Handwerk wird heute nur noch wenig nachgefragt, das finde ich sehr schade.»
Doch eines lässt sich Bocchini nicht nehmen: seine Spaghettini Gildo. «Viele Gäste kommen nur deswegen zu uns.» Praktisch täglich bereite er dieses Gericht nach seinem Geheimrezept persönlich am Tisch vor den Augen der Gäste zu, mit viel Herzblut und Sinnlichkeit. Zwei Eigenschaften, die Bocchini durch und durch eigen sind. «Die Zufriedenheit der Gäste ist das Wichtigste», sagt er. «Einmal bestellte eine Dame um sechs Uhr morgens Kaviar für den Hund. Hier im ‹Palace› erfüllen wir jeden noch so ausgefallenen Wunsch.»
Am 18. September ist sein letzter Arbeitstag. Jahre nach dem eigentlichen Rentenalter. Die letzten Jahre wird er, hoffentlich gesund, im Kreise seiner Familie geniessen, zu Hause in Cesena an der Adria. Seine beiden erwachsenen Töchter wohnen dort und seine Ehefrau, mit der er seit über 40 Jahren eine Fernbeziehung führt.
(Ruth Marending)