Die Rolle als Gast in der Schweiz und gleichzeitig als Gastgeber für Kulinarik aus Äthiopien fand Awraris Girma faszinierend. Seit 2011 führen er und seine Frau das Restaurant Injera in Bern.
Injera ist der Name des Restaurants von Awraris Girma und seiner Frau Claudia Baldissin Girma. Injera heisst auch das Sauerteig-Fladenbrot, das in Äthiopien zu jeder Mahlzeit gegessen wird. Doch Brot ist nicht der richtige Begriff. Denn der dünne Teig aus Teffmehl wird wie Crêpes gebacken. «Teff aus Äthiopien zu bekommen, ist nicht einfach», sagt Awraris Girma. «Deshalb backen wir unsere Injera je zur Hälfte aus Teff- und Weissmehl. Auf Vorbestellung können wir auch reine Teff-Injera herstellen. Die sind dann glutenfrei.» Sie bilden die Basis der äthiopischen Küche. Darauf werden verschiedene Speisen und Saucen angerichtet (Bild), die man mit einem Stück des Fladenbrots von Hand isst. Traditionell gibt es dazu «Tej», einen Honigwein.
Gekocht wird mit frischem Gemüse, Hülsenfrüchten, Fleisch und vielen Gewürzen. «Auf dem Teller wechseln sich milde und pikante Speisen ab», sagt der Gastgeber. «Äthiopien wurde nie kolonialisiert. Deshalb ist die Küche frei von europäischem Einfluss.»
«Gemeinsames Essen mit einem grossen Teller in der Mitte des Tisches hat in Äthiopien einen hohen Stellenwert», erzählt Awraris Girma. «Wenn ältere Menschen einen Raum betreten, stehen die bereits Anwesenden zur Begrüssung auf. Vom Esstisch hingegen steht man nicht auf. Das respektierte sogar der Kaiser.»
Äthiopien ist seit 1995 eine demokratische Bundesrepublik. Bis 1974 war das Land am Horn von Afrika als Kaiserreich Abessinien bekannt. Dazwischen kam mit einem Putsch eine sozialistische Einparteiendiktatur an die Macht. Und nach dem Bürgerkrieg hatten Rebellen das Sagen. Im Krieg gegen das eigene Volk zu kämpfen, war für die Familie Girma keine Option. Sie floh von der Stadt aufs Land und wurde Selbstversorger. Nach dem frühen Tod des Vaters mussten Awraris Girma und sein älterer Bruder die Verantwortung für die Versorgung der Familie übernehmen. Als in den Jahren 1984/85 die grosse Dürre kam, sah Awraris Girma seine Zukunft in Europa. Über Italien, Lugano und Genf kam er nach Bern, wo er Asyl beantragte.
Im Quartiertreff Villa Stucki konnte er ein Praktikum im Bereich Soziale Arbeit absolvieren. Dort begann er jeweils dienstagabends äthiopische Speisen anzubieten. Der Erfolg motivierte ihn, das Wirtepatent zu erlangen. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er jedoch nicht in der Gastronomie arbeiten. Er orientierte sich neu und absolvierte eine Kv-Lehre. Wieder genesen, wuchs der Wunsch nach einem eigenen Restaurant. So erstellte der einstige Bauer aus Äthiopien einen Businessplan und wurde zum Schweizer Unternehmer. Mit seiner Ehefrau Claudia Baldissin Girma eröffnete er im Jahr 2011 das Restaurant Injera im Berner Länggassquartier. «Ohne Kv wären wir vielleicht nicht so erfolgreich. Dazu sagen wir in Äthiopien ‹hulumi lavegonum› – alles hat einen guten Sinn.»
(Gabriel Tinguely)