Massimo Bottura: «Hört auf zu kopieren!»

Das Exklusiv-Interview mit dem Dreisternechef aus Modena.

  • Qualitätsbesessen und genial – aber umstritten: Massimo Bottura. (Bilder ZVG)
  • «Mediterranean Sole»: ein Gericht mit Seezunge, das an die französisch-mediterrane Zubereitungsart erinnern soll, bei der man Fisch «en papillote» gart.
  • Massimo Bottura richtet sein Kabeljau-Gericht an. Es ist eine Hommage an den US-afroamerikanischen Jazzmusiker Thelonious Monk.

Die Show

Er philosophierte, er mahnte, er fluchte. Er zog sie alle in seinen Bann. Hunderte Küchenchefs, Lernende, Produzenten und andere Branchenvertreter hingen an seinen Lippen. Massimo Bottura trat vergangene Woche anlässlich der Chef Alps in Zürich auf. Die Gerichte, die seine beiden Köche in der Showküche zubereiteten? Nebensache. Es galt das gesprochene Wort.

«Glaubt ihr, die Leute reisen aus aller Welt in die Osteria Francescana, nur weil sie fein essen möchten?», fragte er das Publikum rhetorisch. «Natürlich nicht! Fein essen könnt ihr überall, auch in der Trattoria auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Du kommst zu mir, um meine Gedanken, meine Visionen, meine Emotionen zu essen.»

Wir sind Köche, nicht Künstler!

«The Crunchy Part of the Lasagna» sei genau so ein emotionales Gericht. Die dekonstruierte Lasagne ist eine von vielen Kreationen Botturas, die es zur Ikone geschafft haben. Entstanden aus einem Mix italienischer Tradition, der Kindheitserinnerung, wie er damals von seinem Lieblingsgericht bei Nonna Ancella immer die knusprigen Ecken aus der Ofenform kratzte, und einer eigenwilligen, zeitgerechten, neuen Interpretation.

Gleich mehrmals rutschte dem Chef der Trattoria Francescana aus Modena das böse F...-Wort heraus, als er mit dem mahnenden Zeigefinger in der Luft forderte: «Hört auf, zu kopieren!» Oder als er erinnerte: «An erster Stelle muss immer der Geschmack stehen. Wir sind Köche, nicht Künstler!» Das Fachpublikum applaudierte. Wo sonst höchstens verständnisvoll genickt wird, tobte die Menge, als hätte Queen-Legende Freddie Mercury soeben «We are the Champions» und «Bohemian Rhapsody» gerockt. Später gab er der Hotellerie Gastronomie Zeitung ein Exklusiv-Interview.

Das Interview

Massimo Bottura gönnt sich einen Schluck Tee. Massiert sich am Hals, richtet die Brille mit der markanten, schwarzen Fassung. Der Starkoch ist angeschlagen, die Stimme leicht kratzig. Die vielen Reisen setzen ihm zu. Noch mehr aber die Auftritte. Denn leise spricht er da nie. Mahnende Worte, Schimpfworte, aber auch Erzählungen von grossartigen Ideen und Begegnungen – immer wieder macht sich das italienische Temperament, das Bottura hinter seinem weichen, väterlichen Blick versteckt, bemerkbar. Es ist die Überzeugung von seiner Vision, die ihn schon als unbekannter Koch unbeirrt gegen den traditionellen Strom schwimmen liess. Jetzt ist er das absolute Aushängeschild der Branche.

Hotellerie Gastronomie Zeitung: Massimo Bottura, jedes Wort, das aus Ihrem Mund kommt, hat Gewicht, viele Köche vergöttern Sie. Verspüren Sie Druck, wenn Sie etwas sagen?
Massimo Bottura: Schauen Sie: Die jungen Köche sollen erst mal tiefe Wurzeln schlagen und dann langsam wachsen. Reden soll man erst dann, wenn man genau weiss, worüber man spricht. Joan Roca, Daniel Humm, ich, wir haben alle ein gewisses Alter, wir interessieren uns für Kultur, haben viel von der Welt gesehen. Wenn wir dann etwas sagen, sind wir uns der Sache ganz sicher.

Ihre Gerichte werden oft kopiert. Ehrt Sie das?
Verdammt, hört auf zu kopieren! Klar, ehrt mich das, aber das bringt doch nichts!

Wie meinen Sie das?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Mein Neffe spielt richtig gut Saxophon. Aber er glaubt, er sei die Saxophon-Legende Miles Davis, er wollte spielen wie er. Nach einem Konzert fragte er mich, ob es mir gefallen habe.

Was antworteten Sie?
Erst antwortete ich gar nicht. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Als er nachhakte, sagte ich: «Das ist Bullshit! Wenn ich Miles hören will, dann lege ich seine Platte auf. Du bist nicht Miles Davis und du wirst nie Miles Davis sein. Du besitzt nicht sein Talent. Sei du selbst.»

Glauben Sie wirklich, dass jeder Koch seine Identität auf den Teller bringen kann? Ist das nicht den Spitzenchefs vorenthalten?
Das kann jeder. Es braucht aber Visionen, Intuition, Wissen, viele Qualitäten. Das ist keine Frage des Talents, diese Qualitäten kann sich jeder aneignen.

Ihr Tipp für junge, ambitionierte Köche?
Erstens: Sucht nicht nach den neuesten Trends. Fokussiert euch auf eure Umgebung. Menschen reisen rund um die Welt, um lokal zu essen. Wer nach Modena kommt, freut sich auf den besten Essig, den allerbesten Parmesan. Nicht auf fremde Produkte. Zweitens: Reist überall hin. Aber vergesst nicht, wer ihr seid und woher ihr kommt.

Bei Ihrer Chef-Alps-Show hielten Sie besonders laut fest: «Wir sind Köche, nicht Künstler.» Schlechte Erfahrungen gemacht?
Ich reise viel. Bleibt einfach, bleibt bescheiden. Macht keine crazy Dinge. Meine Tochter hat keine Lust mehr, mit mir ins Restaurant zu gehen. Es ist ein Albtraum für sie, und ich kann sie gut verstehen. Jeder will mir alles zum Probieren geben. Die Köche suchen nach dem Abgefahrensten, mit dem sie mich beeindrucken können. Dabei liebe ich nichts mehr als einfache, tolle Gerichte.

Was ist für Sie einfach und toll zugleich?
Zuletzt wurde mir in Singapur – da müssen sie alles importieren, weil da nichts wächst – eine französische Feige serviert. Sie war in der Mitte aufgeschnitten. Beide Hälften waren mit sehr altem Comté-Käse bestrichen. Dazu gab es Krug-Champagner von 1990. Mich hat es förmlich weggeblasen, genial!

Sie loben das Simple. Die Gerichte in Ihrer Osteria sind nicht simpel.
Nein, wenn du 60 Leute in der Küche hast, dann kannst du anderes machen.

Ihr Parmesan-Gericht mit fünf verschiedenen Texturen und Temperaturen, «Oops, I Dropped the Lemon Tart», Ihre Tortelloni auf der Brühe oder Ihr farbiger Teller mit dem Kalbsfilet wurden zu Ikonen – passiert das einfach, oder wissen Sie schon bei der Planung, dass gerade ein legendäres Werk entsteht?
Ich weiss es schon, während ich das Gericht kreiere. Es sind Gerichte, bei denen aus Tradition, Technik und meinem zeitgenössischen Verstand sehr gute Ideen entstehen. Ich bin sicher: Die nächste Ikone wird «Wagyu non Wagyu», ein Pre-Dessert aus Schweinebauch und Schweineherz mit Ponzu-Sauce.

Weshalb?
Weil es die Exzellenz der japanischen mit der Einfachheit der italienischen Küche vermählt. Beide streben nach maximaler Qualität. 

Apropos maximale Qualität: Welche hätten Sie gerne?
Gerne würde ich mit Reis so umgehen können wie Jiro Ono, der japanische Sushi-Meister. Er komprimiert den Reis mit dem perfekten Druck und schafft es, mit seiner exakten Handarbeit das optimale Luftloch zwischen den Reis und den Fisch zu bringen, um das maximale Geschmackserlebnis zu kriegen. Wahnsinn.

Ist Ihr Anti-Food-Waste-Werk «Bread is Gold» Ihr persönlicher Ausgleich zu Ihrer komplexen Küche?
Nein, hier geht es um was anderes. Jeder muss verstehen: Verschwendung ist das Schlimmste, was man im Jahr 2018 anrichten kann. Es ist so unangebracht. 860 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Gleichzeitig produzieren wir aber Food für 12 Milliarden Menschen. Doch wir verschwenden einen Drittel davon, nämlich 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel jährlich. Das ist nicht akzeptabel. Irgendwann dachte ich mir: genug darüber geredet – ich muss handeln. Es ist nicht nur ein Buch entstanden, sondern eine ganze Bewegung.

Kochen sei ein Akt der Liebe, kein Business, behaupten Sie. Wie erklären Sie das dem einfachen Koch, der täglich ums finanzielle Überleben kämpft?
Die Arbeit als Koch ist zu stressig. Wer ihn nicht liebt, wird den Job früher oder später aufgeben. Samstag, Sonntag, alle Freunde haben frei, wir Köche nicht. Der Job als Koch muss also eine Passion sein, um ihn auszuüben. Und wenn man diese Passion hat und das Kochen Spass macht, dann strebt man nach mehr und kommt weiter. Ich fordere jeden Koch auf, mehr als Durchschnitt zu sein.

Die Schweizer Kochbranche hat mit Nachwuchsmangel zu kämpfen. Haben Sie ein Rezept dagegen?
Ja, dabei geht es um das Image des Kochs. Köche gelten als zu dumm für eine anständige Ausbildung. Das ist das Problem. Es ist falsch. Mein Vater hat mir nie verziehen, dass ich mein Jura-Studium abgebrochen habe. Er verachtete mich als Koch. Nun, mittlerweile durfte ich an zwei Universitäten Ehrendoktortitel entgegennehmen. Hätte ich die, wenn ich dumm wäre?

Wohl kaum.
Eben. Also weg von diesem Bild des dummen, ungebildeten Kochs. Aja, etwas möchte ich noch anfügen.

Bitteschön.
Ich möchte meine Botschaft an die jungen Köche nochmals verdeutlichen. Zieht euer eigenes Ding durch! Wenn du gut bist, dann wirst du früher oder später entdeckt und wahrgenommen. Wenn ich das sogar in den Neunzigerjahren im ultratraditionellen Italien geschafft habe, dann ist es überall in der Welt möglich.

(Interview Benny Epstein) 


Das ist Massimo Bottura

Massimo, der Verräter! Lange verachteten die Kritiker den Chefkoch der Osteria Francescana. Sein Schaffen in Modena, der Universitätsstadt in der norditalienischen Emilia-Romagna, polarisiert. Weil er Traditionen nicht einfach annimmt und weitergibt, sondern sie hinterfragt, dekonstruiert und neu umsetzt. 

Ein Beispiel? Von klassischen Spaghetti Bolognese hält er wenig bis gar nichts. «Tradition soll das sein? Spaghetti stammen aus dem Süden, Bolognese aus dem Norden!» An Spaghetti halte die Sauce gar nicht. Und auch das oft geschmacksarme Hackfleisch missfällt dem qualitätsbesessenen Bottura. Stattdessen nimmt er ein Stück Rind mit Knochen und ein Stück Schwein mit Knochen und kocht diese solange mit den entsprechenden Zutaten, bis sie sich gleichsam in Hackfleisch verwandeln.

Für die einen ist er ein mutiges, innovatives Genie, für die anderen ein Verräter der vermeintlich unantastbaren Tradition der Cucina Italiana.

Erfolgreich, aber bodenständig

Lange geächtet und verpönt, mauserte sich Bottura zum Star. Inspiration findet er in der Kunst, die ihm seine Frau Lara Gilmore näher brachte. Mit der amerikanischen Kuratorin hat er zwei Kinder – Charlie und Alexa. Seit 2011 ist Botturas Osteria mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. 2016 kürte die renommierte «The World’s 50 Best Restaurants»-Liste den zweifachen Vater zur Nummer eins.

Trotz seines Erfolgs bleibt der 55-Jährige bodenständig und nahbar. Mit internationalen Projekten wie «Bread is Gold» kämpft er gegen Food Waste und für die Welternährung.


Zahlen und Fakten

12 Tische hat die Osteria Francescana. Das Reservationsportal eröffnet jeweils Anfang Monat. Man reserviert mindestens drei Monate im Voraus.

Vielreisender Bottura bestellt in jedem Hotel, in dem er übernachtet, ein Club-Sandwich.

250 Euro kostet das Zehngangmenü in der Osteria Francescana.

Massimo Bottura ist Markenbotschafter von Maserati. Die Luxusautos stammen wie er aus Modena.

69 Franken kostet das 296 Seiten starke Werk «Never Trust a Skinny Italian Chef». In diesem Buch verrät Massimo Bottura mehrere Rezepte seiner zu Ikonen gewordenen Gerichte. Erhältlich ist es unter anderem bei Ex Libris.

Bottura ist ein grosser Fan von Japans Küche. Kein Wunder also, dass seit 17 Jahren japanische Köche bei ihm arbeiten.