Essen ist Pop, Essen ist individuell – und was noch? Vor allem: Was wird es in fünf, zehn oder zwanzig Jahren sein? Die Welt wird digitaler, der Mensch spezifischer. Wie wird die Gastronomie aussehen?
Wenn Essen bloss Sättigung wäre, wäre die Gastronomie von heute ein Regenbogen mit nur einer Farbe. Doch Essen ist heutzutage Pop, es ist bunt, vielfältig und individuell wie noch nie zuvor. Es ist Wellness, Lifestyle, Orientierung und Identität, es ist Top-Thema der Smartphone-Generation, und es ist Hightech: durchgetaktet und optimiert. Wenn der Gastronom von heute auch noch der Gastronom von morgen sein will, muss er ein Rockstar werden. Denn Essen ist Popkultur geworden. «We once listened to the Beatles, now we eat beetles», heisst es. Beetles, also Käfer, sind in der Schweiz momentan wortwörtlich in aller Munde. Insekten-Restaurants eröffnen, Heuschrecken und Mehlwürmer kommen auf die Teller. Was erwartet die Gastronomie nun in den nächsten zehn Jahren?
Digital und individuell sind die grossen Themen der Zukunft. Essen ist Gesundheit, der Gast strebt nach Selbstoptimierung. Tragen also alle in Zukunft einen Chip, der das Essen an die persönliche Tagesform, die Gene und sogar die Bewegungsmuster anpasst? Kein abwegiges Szenario. Bereits jetzt setzen Schweizer Gastronomen auf Apps für individualisierte und auf Vorlieben abgestimmte Menüvorschläge. Wie steht es um Fleisch? Ist gezüchtetes Fleisch aus dem Labor die Lösung für alle Umweltprobleme? Oder setzt man doch auf smarte Landwirtschaft, Vertical Farming und Unterwasser-Gewächshäuser? Auch die Kochtechniken werden vor der Digitalisierung nicht Halt machen. Druckt man bald das Essen, und die neue Aushilfe in der Küche ist ein Roboter?
Die Gastronomie ist vielfältig wie ein Regenbogen – bald vielleicht in 3D und ultraviolett?
Individualisierung ist beim Essen der Zukunft eines der grossen Schlagworte. Diese geht so weit, dass Essen nicht nur auf Geschmack und Verträglichkeit, sondern auf die Gene abgestimmt wird. Das kann so weit gehen, dass Menschen einen Chip mit oder in sich tragen, der sämtliche Daten bis hin zu Bewegungsmustern aufzeichnet. Daraufhin wird dem Gast ein Menü je nach Zustand und Gesundheit vorgeschlagen. Das US-Unternehmen Habit bietet schon heute DNA-Tests an, woraufhin speziell abgestimmtes Essen geliefert wird. In der Zürcher GoogleKantine ist bereits eine App im Umlauf, die die Unverträglichkeiten der Mitarbeiter speichert und daraufhin nur Menüs vorschlägt, die gewünscht werden. Auch ein Münchner Gastronomiebetrieb nutzt spezifische Ernährung als Konzept. Im «Gym Cook» wird nur proteinreiches Essen serviert. Der Gast sieht bereits beim Bestellen alle Nährwerte des Menüs.
Mehr online, weniger offline: Persönliche Daten geheim zu halten, wird in Zukunft immer schwieriger – eine Chance für die Gastronomie, diese Daten für sich zu nutzen. Standort, Präferenzen, sogar Einkäufe werden heutzutage bereits gespeichert. Nicht umsonst führte die Valora-Gruppe, zu der Gastronomiebetriebe wie Brezelkönig, Avec oder Spettacolo zählen, vor einem halben Jahr ein Pilotprojekt am Zürcher Bahnhof durch. Über WLAN-Daten der Smartphones wurden die Bewegungen der Kunden erfasst, um auszuwerten, wie sich diese zwischen den einzelnen Betrieben bewegen und wie lange sie sich dort aufhalten. Da auch Zahlungen oft über Smartphones getätigt werden, könnte man erfassen, was der Gast kauft und ihm einen Rabattbon für den anderen Betrieb passend zum Produkt senden. Ähnlich funktioniert die «Beacon»-Technologie. Spezielle Empfänger könnten Standorte vorbeigehender Gäste abrufen und ihnen Push-Mitteilungen mit den aktuellen Angeboten direkt aufs Smartphone senden.
Immer unterwegs, immer auf dem Sprung – um den Gast von morgen zufriedenzustellen, wird es noch schneller gehen müssen. Der Durchschnittsgast wird ungeduldiger, Bestellung und Zahlungsabwicklung werden schneller funktionieren müssen. Das Take-away-Geschäft wird wachsen (vielleicht sogar Delivery mit Drohnen), vor allem zur Mittagszeit. Trotzdem legt der Gast Wert auf qualitativ hochwertiges, lokales Essen. Im asiatischen Raum ist die Praxis bereits verbreitet, an Automaten oder Tablets am Tisch zu bestellen. Smartphone-Lösungen wären die Alternative, an denen ohne Wartezeit bestellt und gleichzeitig bezahlt werden kann. Im Berliner Restaurant «Data Kitchen» kann man von unterwegs bereits das gewünschte Essen bestellen. Kurz vor Ankunft bekommt der Gast eine Nummer zugeschickt. Das ist die Nummer der Box, in der sich das Essen befindet. Man holt sich das Gericht aus der Wärmebox und nimmt im Restaurant Platz – ganz ohne Bedienung.
Das Kochen kann man nicht neu erfinden, nur die Techniken dazu. Auch in Zukunft werden sich «Lowtech» und «Hightech» die Wiege halten. Althergebrachtes wie Fermentieren, Räuchern oder Trocknen erleben auch heute zunehmend eine Renaissance. Genauso wie das Garen im Brot oder in der Salzkruste. Einmachen und Haltbar machen werden im Zuge der Regionalität auch immer an Bedeutung gewinnen. In Zukunft wird man repetitive Routinearbeiten vom Roboter ausführen lassen können. Schon jetzt wird bei einer amerikanischen Burger-Kette ein Roboter eingesetzt, der die Burger Patties wendet. Neue Geräte werden die Branche erobern. Anfang September stellte Miele bereits einen Garer vor, der ohne jegliche Hitze bis zu 70 Prozent schneller kocht. Ein Fischfilet wurde dabei mittels Wellen in einem Eisblock gegart, ohne dass das Eis schmolz. Auch Brot liesse sich so ohne Kruste backen, da Wellen das Produkt nicht bräunen.
Glutenfreie Pasta, laktosefreie Milch und Agar Agar statt Gelatine haben schon längst den Weg in die Gastronomie gefunden. Vegane Eier und Käse ohne Milch (beides von «Follow your Heart»), veganer Thunfisch («Sophie’s Kitchen») oder Shrimps («Vantastic Foods») sind noch rar, jedoch die Zukunft. US-amerikanische Food Start-ups wie Impossible Foods oder Beyond Meat kreieren momentan Hackfleisch aus rein pflanzlichen Zutaten. Neben natürlichen Zutaten wie Weizen, Öl und Kartoffeln enthält der Burger von Impossible Foods das Protein «Häme», in dem das Geheimnis des Fleischgeschmacks stecken soll. Das Protein kommt in menschlichem Blutfarbstoff Hämoglobin vor und soll für das «Bluten» der Pflanzenburger verantwortlich sein. Der amerikanische SoftwareEntwickler Rob Rhinehart führt Ersatzprodukte so weit, dass er alle Mahlzeiten durch die Nährlösung «Soylent» ersetzt. Sie enthält angeblich alle überlebenswichtigen Nährstoffe und Kalorien in nur einem Shake.
Fleisch durch Pflanzenstoffe zu ersetzen, ist die eine Alternative, In-vitro-Fleisch die andere. Bei diesem Verfahren, entwickelt vom holländischen Biochemiker Henk Haagsman, wird aus tierischen Stammzellen echtes Fleisch in der Petrischale gezüchtet. Man entnimmt dem Tier auf einem schmerzfreien Weg Stammzellen, die in einer Trägerflüssigkeit angeregt werden, sich zu vermehren. Bisher lässt sich das Laborfleisch allerdings nur in dünnen Schichten züchten, woraus man Hackfleisch, aber noch kein Steak produzieren kann. Eventuell wird es zukünftig möglich sein, diese Zellen mithilfe eines 3D-Druckers in Form zu bringen. Haagsmans Team im «Next Nature Network» forscht ebenfalls an der Produktion von Fischfilet sowie Austern im gleichen Verfahren. Das US-Unternehmen Memphis Meats züchtet neben Schweine- und Rind- auch Hühnerfleisch und verarbeitet dieses zu Chicken Nuggets. 2021 will die Firma das Fleisch an die breite Masse bringen.
«Das Auge isst mit» könnte in Zukunft heissen, dass nur noch das Auge isst. Virtual Reality wird langfristig Teil des Lebens sein. Anfänglich noch dazu da, Gäste über die Inhaltsstoffe aufzuklären, später jedoch könnten entsprechende Brillen gesamte Menüs auf das Auge projezieren, während man in Wirklichkeit beispielsweise kalorienreduziertes Essen zu sich nimmt. Momentan existieren bereits Scanner wie «Tellspec» oder «Scio», die die genauen Inhaltsstoffe eines Essens per Sensor messen. Auch Google forscht an einer künstlichen Intelligenz, die die Kalorienzahl in Menüs lediglich per Foto erkennt. Und Microsoft meldete Brillen zum Patent an, die registrieren, was eine Person isst und daraufhin die Zusammensetzung sowie weitere Infos zum Essen direkt auf die Brille projizieren.
Ernährungssicherheit wird immer mehr zum Problem. Die Landwirtschaft ist von der Klimaerwärmung belastet, der Import in ein Land wie die Schweiz nagt an der Frische. Vertikale Farmen in Städten anzulegen, könnte die Lösung sein. Ohne Transportwege wären Gastronomen in der Lage, auf Dächern und Wänden eigene Produkte anzubauen und gleichzeitig Ressourcen zu sparen. Der Schweizer Gastronomiebetrieb «Holy Cow» baut als einer der ersten Salat in einem vertikalen Gewächshaus im Kanton Waadt an. Die Salatköpfe wachsen mittels Aeroponics: Auf die losen Wurzeln wird eine Nährstofflösung gesprüht und somit Wasser gespart. Federkohl soll später noch dazukommen. Auch das Berliner Restaurant Good Bank baut frischen Salat und Kräuter direkt im Betrieb an. Der Italiener Luca Gamberini geht noch einen Schritt weiter. Der Hobbygärtner hat an der Küste einen Unterwasser-Gemüsegarten angelegt – eine Art Luftblase. In acht Metern Tiefe gedeihen dort auf 100 Quadratmetern Bohnen, Salat und Kräuter in halbkugelförmigen Gewächshäusern.
Auch die Landwirtschaft muss sich in Zukunft der Digitalisierung anpassen, kann jedoch durchaus davon profitieren. In Israel kommt der computergesteuerte Obst- und Gemüseanbau der Firma Phytech bereits zum Einsatz. Pflanzen werden dabei mit Sensoren ausgestattet und messen unter anderem das Wachstum, die Feuchtigkeit sowie den mikrobiologischen Status der Erde und liefern die Daten direkt an den Züchter, der schneller auf Unregelmässigkeiten reagieren und Schädigungen der Pflanze eindämmen kann. Und Wasser wird noch zusätzlich gespart. Doch auch in der Schweiz sind landwirtschaftliche Visionäre zugange. Biobauer Stefan Brunner vom Eichhof in Aarberg/BE verpachtet sein Land quadratmeterweise an Kunden. Sie bestimmen, was angebaut wird, und verfolgen live per App auf Fotos und Videos, wie das Gemüse wächst.
(Redaktion Anna Shemyakova, Grafik Solange Ehrle)