Das kulinarische Erlebnis kann man mit speziellem Besteck und Geschirr auf
überraschende Art verändern. Das Essen wird zum Experiment.
Es ist an der Zeit, den ewigen Nebenakteuren Geschirr und Besteck eine neue Rolle zu geben. Viel zu oft stehen sie im Schatten des Essens, unterstützen dieses höchstens. Rein funktional. Dabei haben sie eine unendliche Kraft, das Esserlebnis des Gastes zu verändern. Sie formen einen neuen Weg des Genusses. Und zwar nicht nur des kulinarischen Genusses, sondern auch des sozialen. Man kann mit Hilfe von Geschirr und Besteck die Esskultur in Frage stellen, ja sogar verändern.
Dieser Mission haben sich Martin Kullik und Jouw Wijnsma verschrieben. Die beiden gründeten in Amsterdam die Initiative für experimentelle Gastronomie und nannten sie «Steinbeisser». Es ist ein Zusammenspiel aus Design, Natur und Kulinarik. Ein Stein als Löffel oder ein Schraubenschlüssel als Gabel sind nicht selten Hauptakteure im Geschehen.
Auch ein Löffel von einem Meter Länge fordert den Gast heraus. Wie soll man damit essen? «Der Ablauf von Teller, Gabel und Messer ist so standardisiert. Wenn sich jedoch das Besteckstück verändert, verändert sich auch das Verhältnis zum Essen. Plötzlich liegen auf dem Tisch so viele Möglichkeiten», erzählt Martin Kullik. Auf der ganzen Welt sind die beiden mit ihren kulinarischen Events unterwegs. Bewusst suchen sie nach Künstlern, die nicht im Geschirrbereich tätig sind. Oft sind es Schmuckdesigner, Skulpteure oder sogar Modedesigner. Der Blick aufs Neue zählt.
Im vergangenen Jahr fand die Schweizer Premiere in Basel statt. Zusammen mit Sterneköchin Tanja Grandits kreierten sie einen Anlass mit einem veganen Fünf-Gang-Menü. Im Mittelpunkt standen dabei Besteckstücke von unterschiedlichen Designern zum Thema «Sieben Sünden». Das Besteck überraschte abermals. Plötzlich mussten die Gäste einen Weg finden, ihre Suppe mit einem Dornbusch-Löffel zu essen. «Die Stücke greifen derart in den Essprozess ein, dass Menschen anfangen, sich auf eine neue Art und Weise mit dem Essen auseinanderzusetzen. Man isst länger und achtet so viel mehr auf Details», erzählt Martin Kullik. Es findet eine neue Art Food Pairing statt. Geschirr und Essen ergänzen sich perfekt. Die Köche und Künstler stimmen ihre Designs und Rezepte aufeinander ab. «Wenn wir die Köche herausfordern, müssen wir auch die Gäste herausfordern», meint Kullik.
Einige Herausforderungen haben es wahrlich in sich. Zusammen mit Stücken des estländischen Designers Nils Hint veranstaltete «Steinbeisser», ein Event mit wiederverwerteten Werkzeugen. Heraus kamen Schraub-Gabeln, Klemmen-Löffel oder Achtkant- Messer. Ein Löffel war dabei die Fusion aus Schraubenschlüssel und Löffel. Das ein Meter lange Teil war sehr schwer und unhandlich. «Das Stück war nicht dazu gedacht, selbst damit zu essen. Man sollte es der Person gegenüber in den Mund führen. Es war interessant zu sehen, dass Menschen die ganze Zeit versuchten, selbst damit zu essen, anstatt etwas anderes auszuprobieren», erinnert sich Martin Kullik. Sie versuchten mit diesem Experiment, das «Miteinander» der Gäste zu aktivieren. «Ich teile die Besteckstücke jeweils aus und versuche, auch unbekannte Menschen miteinander zu vernetzen. Sie sollen gemeinsam lachen und eine schöne Zeit erleben. Das Besteckstück funktioniert dabei als Vermittler», erklärt Kullik.
Auch am kommenden Event in Zürich, am 2. und 3. Juni, liegt der Fokus auf dem Miteinander. Eine Künstlerin aus Korea hat Besteckstücke designt, die man teilen muss. «Jetzt stellt sich die interessante Frage: Nehme ich das Stück zuerst oder lasse ich der anderen Person den Vorrang? Bin ich ein Altruist oder ein Egoist?», fragt sich Kullik gespannt. Ein weiteres Experiment wird mit dem Essen stattfinden: «Jeder einzelne Gast bekommt ein anderes Öl – mal Kürbiskernöl, mal Leindotteröl, mal Leinsamenöl. Teilt man es mit der anderen Person? Und was passiert, wenn das andere Öl einem besser schmeckt? Behält man es für sich?» Fragen, auf die nur die Gäste Antworten finden werden. Dann, wenn sie Teilnehmer des sozial-kulinarischen Experiments sind.
Zu oft vergisst man, dass nicht alleine das Essen zählt. Erst durch Geschirr und Besteck werden die einzelnen Komponenten zum Konzept. Die Schweizer Naturköchin Rebecca Clopath gibt Produzenten ein Gesicht und erzeugt mit ihnen zusammen eine Kulinarik mit symbolhafter Regionalität. «Passendes Geschirr und Besteck vervollständigen die Geschichte», erzählt Clopath. Jedes Event, das sie bei sich im bündnerischen Lohn organisiert, steht unter einem regionalen Motto. Mal ist es die Viamala-Schlucht, mal die Geschichte der Walser.
Rebecca Clopath ist dabei nicht nur kulinarische, sondern auch historische Erzählerin. «Die Walser zeichneten sich durch eine robuste und starke Statur aus. Passend dazu ist das Besteck sehr rustikal und sogar grob – es ergänzt den Eindruck der kernigen Ursprünglichkeit. Der Gast fühlt sich in diese Zeit hineinversetzt und steckt viel mehr in der Geschichte drin», erzählt Clopath. Der Herr hinter dem Besteck ist Schmied Thomas Lampert aus Guarda. Auch das Geschirr lässt sich Rebecca Clopath von Daniela Canova in der Altstadttöpferei in Chur fertigen. Aus Steingutton und mit der Handdrehscheibe produziert sie Geschirrstücke, wie sie auch schon vor Tausenden von Jahren gefertigt wurden. «Man soll die Schönheit hinter dem Handwerk sehen und dieses wertschätzen. Schliesslich symbolisiert meine Arbeit in Lohn nichts anderes als dieses natürliche Konzept», erklärt Clopath.
Zurück zur Natürlichkeit bewegt sich auch das Hotel Chesa Rosatsch in Celerina. Seit 2013 isst und kocht man im hauseigenen Restaurant Stüvas Rosatsch nach den Grundsätzen von Slow Food. Das Geschirr sowie das Besteck und sogar die Becher werden von Hand in der Töpferei von Verena Jordan-Culatti und vom Schmied Thomas Lampert in Guarda gefertigt. Entstanden ist die «Maisada da Guarda» – eine Tafelrunde mit sieben Tellern und einem Besteckset. Den Fischteller aus Steinzeug schmückt dabei ein gezacktes Muster, das an die Schuppen eines Fischs erinnert. «Die Gerichte arrangieren wir passend zum Teller», erzählt Hoteldirektor Jonas Gantenbein. Bald sollen auch Weingläser aus regionaler Produktion das Restaurant schmücken.
Als Gastronom eigens angefertigtes Geschirr zu beziehen, ist nicht nur eine Sache der Nachhaltigkeit, sondern auch der Individualität. «Jede Person ist einzigartig. Wie wirkt sich das wohl auf den Genussmoment des Gastes aus, wenn auch das Geschirr einzigartig ist? Jeder fühlt sich gern individuell behandelt», meint Martin Kullik. Unikate stehen bei ihm immer über Serienproduktion. Man setzt zudem ganz spezifische, teilweise auch regionale Akzente, auf die eine Grossmanufaktur gar nicht eingehen könnte. Aus einem losen Arrangement wird eine Geschichte.
(Anna Shemyakova)