Sechsteilige Serie «Die Jagd nach Punkten und Sternen» – Teil 1: Die Opfer.
Es ist Sonntag, der 31. Januar. Die Nachricht vom Tod Benoît Violiers schockiert die Gastronomiewelt. Der 44-jährige begnadete Spitzenkoch habe mit einer Schusswaffe seinem Leben ein Ende gesetzt, meldet am Abend die Waadtländer Kantonspolizei. Freunde und Berufskollegen sind entsetzt und fassungslos. Paul Bocuse trauert auf Twitter: «Grosser Koch, grosser Mann, riesiges Talent.» Nur wenige Stunden nach dem Suizid des Chefkochs vom L’Hôtel de Ville in Crissier wird nach dem Warum gefragt. Rasch macht das Gerücht die Runde, Violier hätte nach Paris zur Präsentation der neuesten «Guide-Michelin»-Bewertungen reisen sollen und möglicherweise von einem Sterne-Entzug erfahren. Eine Mutmassung, die sich bald als Unsinn herausstellte. Die wenig später gestreute Meldung, Violier sei einem Weinhändler auf den Leim gegangen und habe viel Geld verloren, wird von seiner Witwe Brigitte sofort dementiert.
Seither sind zwei Monate vergangen. Und noch immer stehen enge Freunde wie Chefadjutant Jean-Michel Martin von der Schweizer Armee vor einem Rätsel. «Ich kannte Benoît seit mehr als zehn Jahren. Sein Suizid ist für mich bis heute unverständlich. Er war ein herzlicher Mensch, grosszügig, stets hilfsbereit. Aber manchmal habe ich mich schon gefragt, wie er all seine Aufgaben und Verpflichtungen unter einen Hut bringt.»
Wie zerstörerisch ist die Jagd nach Punkten und Sternen, nach Ruhm und Ehre? Wie viele andere Freunde und Berufskollegen will auch Jean-Michel Martin sich aus Pietätsgründen nicht an Spekulationen beteiligen. Fakt bleibt, Benoît Violiers Suizid und die Diskussionen über Stress, Druck, Schlaflosigkeit und Burn-out, denen nicht nur Spitzenköche ausgesetzt sind, wecken Erinnerungen. Beispielsweise an den Tod des französischen Sternekochs Bernard Loiseau, der sich im Jahre 2003 im Alter von 52 Jahren das Leben nahm, nachdem er erfahren hatte, dass «GaultMillau» ihn von 19 auf 17 Punkte herabstufte. Als Paul Bocuse daraufhin wütend über die Restaurantkritiker schimpfte, sie seien wie Eunuchen – wissen alles, können aber nichts –, wurde erstmals die Macht der Tester öffentlich diskutiert und in Frage gestellt.
Acht Jahre später setzte Friedrich Zemanek seinem Leben ein Ende. Für den Captain der Schweizer Kochnationalmannschaft, Meister der fantasievollen Wald- und Wiesenküche, der mit Hanfblatt, Knöterich und Spitzwegerich experimentierte wie kein anderer, brach eine Welt zusammen, als er erfuhr, dass «GaultMillau» ihn mit nur 14 Punkten bewertete. Zemanek, damals neu im Restaurant Matisse in Basel, strebte den erstmaligen Einzug in den renommierten Restaurantführer gleich mit 16 Punkten an.
Der Tod von Benoît Violier, Bernard Loiseau und Friedrich Zemanek sorgte in den Medien für grosse Schlagzeilen. Oft sind es aber nur kurze, nicht minder traurige Nachrichten von unbekannten, verzweifelten Köchen und Gastronomen, die keinen Ausweg finden. 2010 nahm sich ein Mitarbeiter der Disneyland-Küche in Paris das Leben. Grund: Depression. 2011 wird die Leiche des in Luxemburg bekannten Jungkochs Marc Junker aufgefunden. Todesursache: Suizid. 2015 meldet die deutsche Bild-Zeitung den Tod des Hamburger Promi-Wirts Frederic Janhsen, der in Südfrankreich Selbstmord verübte. Grund bis heute unbekannt.
Wer in der Geschichte tragischer Suizide von Köchen und Gastronomen blättert, stösst unweigerlich auf den Fall François Vatel. Der Schweizer Küchenchef – eigentlich hiess er Fritz-Karl Watel – stand 1671 im Dienste des Prinzen von Condé. Als dieser ein Fest zu Ehren König Ludwigs XIV. gab, misslang Vatel die Zubereitung eines Bratens. Vatel, der seit Wochen kaum geschlafen hatte, war ausser sich. «Ich bin entehrt!», rief er aus. Anderntags fand man ihn – so schreiben die Chronisten – in seinem Blute. Eigenhändig mit seinem Schwert durchbohrt.