Essen teilen ist in. Dass das auch in der Spitzengastronomie funktioniert, beweist Silvio Germann im Restaurant Igniv.
Ein leises «Mmmmmh» begleitet das andächtige Nicken, man kratzt die letzten Reste aus dem geköpften Ei und geniesst nochmals still. Fast synchron geht das so, alle am Tisch tun es. Dann wird über das Oeuf Royal, wie das Apéro-Gericht mit Lauchpüree, Brotcroûtons und Kartoffelspoom heisst, diskutiert. Es wird gelobt, fast gefeiert. Am liebsten würde man Richtung Küche «Weiter so!» rufen. Tut man im Spitzenrestaurant eines Fünfsternehotels aber nicht.
Das Oeuf Royal wird nicht auf dem persönlichen Tellerchen serviert. Die Bedienung stellt das Strohbett, in dem die Eier stehen, mitten auf den Tisch. Man bedient sich. Genau wie später beim Zander-Ceviche mit Rande und Grapefruit, beim Saibling-Escabeche, beim Kalbstatar, bei der mit Brioche gereichten Foie Gras, beim Kopfsalat mit Estragon-Crème. Und bei allen weiteren Gerichten, die in angenehmem Takt aufgetischt werden.
Mit Charme führt Gastgeber und Sommelier Francesco Benvenuto durchs Menü. Sein Weinwissen geht weit übers Technische hinaus. Lieber erzählt er persönliche Anekdoten, Erlebnisse mit dem Wein. Er empfiehlt gerne einen Bündner Wein oder einen Winzerchampagner, der es mit allen unterschiedlichen Gerichten gut aufnehmen kann. Für besondere Momente hält der von Gault Millau zum Sommelier des Jahres 2018 ausgezeichnete Italiener eine Grossflasche mit seinem Nachnamen auf der Etikette bereit. Der Malanser Winzer Georg Fromm liess ihn ein Barrique seines Pinot Noirs auswählen. Wieso er den Wein in Grossflaschen abfüllte? Weil Benvenuto Grossflaschen liebt – sie sind perfekt fürs feierliche Teilen unter vielen Gästen. Und nirgends wird so feierlich geteilt wie im «Igniv» im «Grand Resort Bad Ragaz».
Ein Michelin-Stern und 17 Gault-Millau-Punkte erhielt Küchenchef Silvio Germann schon nach dem ersten Jahr. Als verlängerter Arm von Drei-Sterne-Chef Andreas Caminada zelebriert der Luzerner das Teilen in höchster Qualität. Töpfe zum Schöpfen gibt es hier nur selten, viel mehr wird auf zahlreiche kleine Gerichte gesetzt, von denen man sich zwei, vielleicht drei Bissen gönnt, um den Rest mit den Tischgenossen zu teilen. Alles kommt in die Tischmitte, manches wird mit blosser Hand zum Mund geführt – ganz wie zu Hause. Nur eben in der Spitzenküche zubereitet. «So soll es sein», findet Germann. Während in vielen hiesigen Gourmetlokalen andächtiges Schweigen vorherrscht, kommt man hier ums gute Tischgespräch kaum herum.
Sharing-Dinners auf Sterneniveau – Silvio Germann glaubt nicht, dass es weltweit ein ähnliches Konzept gibt. Ausser natürlich in St. Moritz, wo Caminada kurz vor Weihnachten 2016 das zweite «Igniv», zu Deutsch Nest, eröffnete. «Man muss sich erst mal überlegen, ob sich ein Gericht teilen lässt», erklärt Germann. «Ein Stunden-Ei etwa kann man nicht teilen.» Zudem sollen alle Gäste am Tisch die Möglichkeit haben, dasselbe zu erleben. Es dürfe also kein Gericht sein, bei dem einer ein besseres Stück erwischt als der andere. «Die Vorspeisen müssen leicht sein, damit sich der Gast später noch frisch fühlt. Haben wir einen Salat mit einer Vinaigrette auf dem Menü, dann servieren wir ihn beim zweiten Teil der Vorspeisen, weil danach der Teller voller Sauce ist.»
Caminadas Handschrift ist auf den Tellern klar erkennbar. Wie viel kreative Freiheit hat Germann denn? «Ich bin hier der Chef», sagt der 28-Jährige. «Durch meine dreieinhalb Jahre bei Andreas weiss ich, was und wie er es haben möchte. Er will nicht viel Schnickschnack auf dem Teller. Und sollte ihm doch mal etwas im Menü nicht gefallen, so sagt er dies.»
Die Teller selbst stammen teils aus dem Brockenhaus. «In einer Probephase hatten wir nur Geschirr, das meine Mutter im Brocki zusammengekauft hatte. Mittlerweile haben wir auch High-End-Geschirr. Manches, wie etwa das Buttergeschirr, ist aber immer noch das aus dem Brockenhaus.»
Weniger Spielraum hat Germann bei den Signature Dishes. Die müssen in Bad Ragaz und in St. Moritz genau gleich schmecken. «Für das Tatar bin ich mit Andreas nach St. Moritz gefahren. Da haben Marcel Skibba, der dortige Küchenchef, und ich je ein Tatar abgeschmeckt, ehe wir entschieden, wie es künftig an beiden Orten sein soll.»
Sechs Köche stehen in Bad Ragaz an den Töpfen. Sie kochen für maximal dreissig Gäste. «Sechs Köche – das klingt nach viel», ist sich Germann bewusst. «Aber man bedenke: Wenn ein Zweiertisch das Dreigangmenü bestellt, servieren wir rund zwanzig Gerichte. Das ist viel mehr als in anderen Lokalen.» Jeder Gast wird im Vorfeld gegoogelt, der Betrieb führt eine Kartei, in dem die Menüs der Gäste festgehalten werden. «So kennen wir die Vorlieben und wissen beim zweiten Mal, ob der Gast sein Wasser lieber mit oder ohne Kohlensäure trinkt. Wie zu Hause.»
Auch das Interieur erinnert an daheim und nicht an ein schweres Spitzenrestaurant: Es ist angenehm hell, gegenüber der Holzwand steht mitten im Raum ein Cheminée, die Samtkissen auf den schlanken Designerstühlen wirken edel.
Der Erfolg gibt Caminada und seinem Statthalter Recht: Das Restaurant ist meist ausgebucht. Der Umsatz sei gegenüber jenem des Vorgängers «Äbtestube» deutlich gestiegen, die Zahlen bleiben intern. Für Germann zählt auch der Lernprozess der zwei Jahre: «Jetzt wissen wir, wann wir Rechauds an den Tisch bringen, wann Teller. Das Menü war anfangs zu gross, die Vorspeisen zu schwer.»
Ursprünglich kostete das Dreigangmenü 138 Franken. Nach dem Erhalt des ersten Sterns wurde der Preis um zehn Franken angehoben. Das hätte nun abermals geschehen sollen, doch Germann und Benvenuto wehrten sich erfolgreich. Germann erklärt: «Wir haben achtzig Prozent hotelexterne Gäste, Leute aus der Region, Liechtensteiner, Winzer aus der Bündner Herrschaft. Sie sollen sich bei uns willkommen fühlen. Das haben wir geschafft. Daran wollen wir festhalten.» Und wieder riefe man gerne: Weiter so!
(Benny Epstein)
Als Andreas Caminada seinem 26-jährigen Schützling Silvio Germann vom Restaurant Igniv, das demnächst eröffnet werden sollte, erzählte, befand er ihn zu jung für diese Aufgabe. Drei Tage später rief Germann seinen Förderer an: «Ich will!» Der unterschriftsbereite Vertrag aus Joachim Wisslers dreifach besterntem «Vendôme» verkam zur Makulatur. Caminada willigte ein. Vor dem Start liess sich Germann bei Björn Frantzén, Quique Dacosta und Thomas Dorfer inspirieren.
Igniv by Andreas Caminada
Bernhard-Simonstrasse, 7310 Bad Ragaz
Tel. 081 303 30 30