Läden sterben, Menschen ändern sich. Ein Betrieb aber hält an seiner Wiener Kaffeehaus-Tradition und an seinem Antonio fest.
Von der Decke hängen zwei grosse, schwere Kronleuchter herunter. Die riesige Spiegelwand verdoppelt den Effekt und lässt das in rötlichem Marmor verkleidete Lokal grösser erscheinen. Schlichte Stuckaturen verleihen der Decke Charakter, die roten Bezüge der Barsessel sind alt und rissig. Aus den Lautsprecherboxen an den Wänden scheppert Chicago-Jazz. Auf die Frage nach der Verfügbarkeit eines drahtlosen Internet-Zugangs erwidert Antonio, der Servicemitarbeiter mit dem dichten, grauen Schnauz, ein kantiges, staubtrockenes «Nein».
Eine Erinnerung an anno dazumal? Nein, eine Beobachtung von vergangener Woche aus dem «Odeon» am Zürcher Bellevue. Aber ja: Sie hätte gewiss auch aus den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts stammen können. Das «Odeon», ein Betrieb der Fred Tschanz AG, ist stehen geblieben. Und das ist gut so.
Am Sonntag, 1. Juli 1911, öffnete das Grand Café Odeon seine Türen. Ein prächtiges Kaffeehaus im Jugendstil mit eigener Konditorei im Keller und Billardraum im ersten Stock. Dass der Bau erhaltenswert ist, stellte man früh fest und setzte ihn unter Denkmalschutz. Hier trafen sich Dichter, Maler, Musiker. James Joyce, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch fanden hier Musse und schrieben Werke für die Ewigkeit. Oberst Ulrich Wille, General der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg, Italiens faschistischer Führer Benito Mussolini und der russische Revolutionär Wladimir Lenin waren hier ebenso zu Gast wie der Physiker Albert Einstein. Mitte der Neunzigerjahre galt es als Treffpunkt der Schwulenszene.
Das «Odeon» ist kein Café, es ist ein Kaffeehaus. Hier bestellt man nach dem Wiener Vorbild keinen Espresso, sondern einen «kleinen Schwarzen» (5.50 Franken) mit Arabica-Bohnen vom Wiener Julius Meinl oder an warmen Tagen einen Wiener Eiskaffee (13 Franken), Vanilleglace mit Kaffee und Schlagrahm. Die Küche zählt sieben Mitarbeiter, der Service siebzehn. Viele von ihnen sind charaktervolle Urgesteine.
Antonio, weisses Hemd, schwarze Krawatte, lange dunkelgraue Schürze, balanciert das Bestellte auf dem Silbertablett und stellt es neben die Rose in der Kristallvase auf den Tisch. Er serviert im «Odeon» seit 1990. Das Glas Champagner gibt es auf Wunsch der Diskretion halber im Kaffeekännchen. Banker wickeln Deals ab und schlürfen französische Austern (3 Stück für 18 Franken), Touristen schiessen Erinnerungsbilder, Mütter mit Kinderwagen teilen sich einen hausgemachten Apfelstrudel mit Vanillesauce (13 Franken). Ein Prozent des Umsatzes kommt gemeinnützigem Engagement zugute.
Wegen der Krawalle in den Siebzigerjahren musste das Lokal 1972 schliessen. Bei der Wiedereröffnung blieb ein Drittel als Kaffeehaus erhalten, zwei Drittel wurden zunächst eine Boutique und schliesslich eine Apotheke. Das «Odeon» überlebte die Jugendunruhen in Zürich, das Ladensterben (wo früher Traditionsbetriebe florierten, verkaufen heute McDonald’s und Starbucks Burger und Kaffee) und die Hipsters. Das «Odeon» ist nicht cool und trendig. Das «Odeon» ist Kulturgut.
(Benny Epstein)