Marcel Wissmann, skv-Mitglied, ist seit Jahren als Berater im Gastgewerbe unterwegs. Er fordert die Abschaffung des Gärtlidenkens in der Branche.
Marcel Wissmann, wie fit ist in Ihren Augen die Gastronomie?
MarcelWissmann: Die Branche muss sich ändern. Und zwar so, wie alle Betriebe aus anderen Branchen auch, die sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung und der Agilität auseinandersetzen. Anders ausgedrückt: Das Gastgewerbe und seine Betriebe müssen eindeutig innovativer und sowohl für die Gäste als auch für die Arbeitnehmenden attraktiver werden.
Wie soll das gehen?
Es braucht eine Änderung der Denkweise, die neue Konzepte zulässt. Neben der Innovation stehen vor allem Kollaborationen und Kompetenzen im Vordergrund. Damit meine ich, dass wir lernen müssen, viel mehr über die betrieblichen Grenzen hinweg miteinander zu wirken. Wir müssen Wissen miteinander teilen, Lösungen zusammen erarbeiten. Also weg vom Gärtlidenken hin zu Open-Space-Modellen, weg von «Me too» hin zu mehr Authentizität.
Wie stellen Sie sich das vor?
In der Gastronomie haben wir viele ausgewiesene Fachspezialisten, die mit Herzblut ihren Beruf ausüben. Meines Erachtens reicht das heutzutage jedoch nicht mehr aus. Es braucht gute betriebswirtschaftliche Kenntnisse und hohe Sozialkompetenz im Umgang mit Gästen, Mitarbeitenden und Kollaborationspartnern.
Was muss in der Gastronomie angepasst werden?
Es braucht vermehrt Fähigkeiten, aus Visionen eine sinnvolle Wertschöpfung zu generieren. Dazu gehört unter anderem eine klare Marktpositionierung, Zusammenarbeit mit Partnern und Lieferanten, Kundenpflege sowie die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen.
Wie sollen sich die Betroffenen neu ausrichten?
Die Corona-Krise ist für die Gastronomie unbestritten eine dramatische Situation. Sie bietet aber die Möglichkeit, eine Neupositionierung ins Auge zu fassen. Dabei stellt sich die grundlegende Frage: «Wollen wir die Wiedereröffnung gemäss altem Konzept vornehmen oder die Gelegenheit nutzen, uns neu zu erfinden?» Innovation entsteht nicht im Alleingang, sondern im Austausch mit Kunden, Konkurrenten, Lieferanten und Mitarbeitenden.
Wenn ein Gastronom sein Konzept überarbeiten möchte, wie soll er vorgehen?
Es gibt tolle Methoden wie zum Beispiel das Canvas-Modell nach Alexander Osterwalder. Dabei handelt es sich um eine strategische Management- und Lean-Start-up-Vorlage. Diese dient zur systematischen Visualisierung und Strukturierung von neuen und bestehenden Geschäftsmodellen. Ein wesentliches Merkmal ist die Kundenzentrierung.
Was heisst das konkret?
Kundenzentrierung bedeutet die Ausrichtung des Unternehmens als Ganzes und des Marketings im Besonderen. Im Vordergrund stehen die Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Kunden, ohne dass die unternehmenseigenen Belange vernachlässigt werden.
Welche Schritte machen Sinn?
Es gibt verschiedene Lösungsansätze. Es ist wichtig, sich über den ganzen Betrieb Gedanken zu machen. Wie ist das Unternehmen heute aufgestellt, und wie soll es morgen sein? In welchem Marktumfeld steht mein Betrieb und wie setzt sich die Gästeschar zusammen? Auch eine Trendanalyse gehört zu den Überlegungen. Dann muss eine Vision, eine Corporate Identity und ein strategisches Geschäftsmodell entwickelt werden. Aufgrund dieser Ansätze gilt es, eine Kundensegmentierung und die operativen Strukturen zu definieren. Dies, um nur einige Ansatzpunkte zu nennen.
Sie haben die Corona-Zeit genutzt, um sich über den Erfolg der Gastronomie im allgemeinen Gedanken zu machen. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?
Ich habe mir vor allem Gedanken gemacht zur Frage, was die Digitalisierung für die Gastronomie bedeutet. Ich bin überzeugt, dass sie in zwei Bereichen weiter vorangetrieben werden kann.
Die da wären?
Einerseits nutzen wir die Digitalisierung in den Prozessen zu wenig. Zum Beispiel bei der Automatisierung von Bestellungen oder bei Gästebuchungen bis hin zur Buchhaltung sowie die Nutzung eines Customer Relation Management (CRM). Hier wird noch viel zu viel handgestrickt gemacht. Auf dem Markt bestehen schon ausgereifte Tools auch für KMU. Andererseits nutzen wir die Digitalisierung in der Aus- und Weiterbildung praktisch nicht. Die Affinität für das E-Learning steigt und würde in Kombination mit klassischen Bildungsmassnahmen auch für Arbeitnehmende einen Mehrwert bilden. Ausserdem sind die Bildungskosten auf Dauer massiv tiefer.
In aller Munde ist die digitale Transformation. Wie wichtig ist die Digitalisierung in der Gastronomie im Rahmen der so genannten Arbeitswelt 4.0*, auch New Work genannt?
Dort stehen drei Dimensionen im Vordergrund: People, Technologie, Place. Aus allen drei Dimensionen könnten sich interessante neue Betrachtungsweisen und Lösungsideen für die Gastronomie ergeben.
(Interview Ruth Marending)
Die Arbeitswelt 4.0 ist ein wichtiger Bestandteil der digitalen Transformation von Unternehmen. Dabei werden drei Dimensionen betrachtet:
People
Dazu zählen neue (agile) Führungsprinzipien, aber auch die verlangten zukünftigen Fähigkeiten der Mitarbeitenden sowie Kulturaspekte, die wegen der Digitalisierung und Agilität oder Flexibilität stark im Wandel sind.
Technologie
Gemeint ist die gesamte Infrastruktur, sowohl die IT als auch Küchengeräte oder Kassensysteme. Hier gehören zudem Kollaborationstools wie Skype, Zoom oder Teams dazu, die in Corona-Zeiten einen regelrechten Boom erleben.
Place
Neue Arbeitsformen wie zum Beispiel Coworking-Modelle, Flexibilisierung der Arbeitszeiten und multifunktionelle Arbeitsplätze.
Mehr Informationen unter:
www.foodtechnic.ch