Die Schattenseiten des Tourismus

Mallorca, Barcelona, Venedig: Die Proteste gegen den Massentourismus reissen nicht ab. Auch in der Schweiz regen sich erste Widerstände. Wie dramatisch ist die Situation wirklich?

  • Wegen der Terroranschläge in Tunesien und in der Türkei konzentrieren sich die Badeurlauber auf die spanischen Strände. Entsprechend eng war es dort in diesem Sommer. (Unsplash)
  • Das Verzascatal steht unter Naturschutz. Dessen sind sich die meisten Besucher nicht bewusst. (Keystone)
  • Für viele Asiaten ist Luzern mit seiner Kapellbrücke einer der touristischen Hot Spots, die auf dem Programm einer Schweizer Reise stehen müssen. (Unsplash)

Luzern an einem schönen Vormittag. Am Schwanenplatz speuzen Cars Touristen im Minutentakt aus. Die Neuankömmlinge, vorab Asiaten, schwärmen gruppenweise aus. Richtung Grendel, Seepromenade und Kapellbrücke. Szenen, die nicht bei allen gut ankommen. Einzelne Einheimische meiden die Gassen der Altstadt, weil sich dort die Geschäfte immer mehr auf souvenirkaufende Feriengäste einstellen. Autofahrer verzweifeln an Touristen, die für ein Selfie auf die Strasse springen. Wer über die Seebrücke Richtung Bahnhof geht, rechnet besser genügend Zeit ein. Immer wieder gilt es, fotografierenden Touristen auszuweichen.

Angesichts dieser Zeichen des Unmuts erstaunt es nicht, dass auch die nationale Presse davon Wind bekommen hat. So titelten «Der Bund» und die «Sonntagszeitung» unlängst: «Massentourismus überfordert Schweizer Ferienorte.» Erwähnt ist unter anderem Luzern, wo Einheimische durch verstopfte Strassen genervt sind. Marcel Perren, Tourismusdirektor von Luzern, beschwichtigt: «Luzern ist seit vielen Jahren eine weltweit bekannte Tourismusstadt, und die grosse Mehrheit der Bevölkerung ist stolz auf diese Tatsache», sagt er. «Die hohe Lebensqualität in Luzern ist auch dem Tourismus zu verdanken.» Doch: «Wir haben durchaus Verständnis für kritische Anliegen und versuchen, diese bestmöglich in unsere strategische Ausrichtung einzubeziehen.» So setze Luzern Tourismus auf eine Premium-Qualitätsstrategie. Nicht die Zunahme der Logiernächte stehe im Zentrum, sondern die touristische Wertschöpfung, eine längere Aufenthaltsdauer sowie eine ideale saisonale Verteilung.

In den letzten Jahren hat Schweiz Tourismus auf Fernmärkte wie Asien gesetzt, die von der Frankenstärke weniger betroffen waren. Das Marketing zeigt Erfolge, die Besucherzahlen, vorab aus China, haben kräftig zugelegt. Das Resultat ist gut in Luzern zu sehen. Die Gäste aus den Fernmärkten reisen tendenziell in Gruppen, was zu einer höheren Sichtbarkeit führt. «Die Bevölkerung im Umfeld solcher Orte nimmt diese Gäste verstärkt wahr und muss zuweilen Verständnis und Geduld aufbringen», sagt Markus Berger, Mediensprecher von Schweiz Tourismus. Doch seiner Wahrnehmung nach würden das die Einheimischen insgesamt sehr erfolgreich meistern. «Einzelne Stimmen, denen diese Gästeströme zu weit gehen, wird es immer geben», so seine Meinung. «Man muss sie ernst nehmen und mit gegenseitiger Sensibilisierung für eine Optimierung der Situation sorgen.»

Destinationen müssen sich auf punktuelle Überlastung einstellen 

Nicht nur der Hot Spot Luzern ist teilweise von einer Touristenflut betroffen. Auch andere, weniger bekannte Orte sehen sich plötzlich mit einer grösseren Flut von Reisegruppen konfrontiert. So wissen die beiden Zeitungen zu berichten, dass in Zug insbesondere das Gratis-WC der öffentlichen Badi von den asiatischen Reisegruppen gestürmt würde. Der Grund für den Halt in Zug sei jedoch nicht das Baden im Zugersee, sondern das Uhrengeschäft.

Das «Aescher-Wildkirchli» im Alpsteingebiet, das letztes Jahr das Titelblatt von «National Geographic» zierte, sieht sich seit jener Publikation mit einem grösseren Touristenstrom konfrontiert. Auch das Verzascatal wurde von einem grossen Touristenaufkommen überrascht, nachdem der italienische Blogger Marco Capredi vom «herrlichen Canyon voll smaragdgrünem Wasser, eine Stunde von Mailand entfernt» im Netz schwärmte.

Schweiz Tourismus bewirbt in diesem Jahr mit ihrer Jahreskampagne die Naturschönheiten. Doch die Folgen von zu viel Werbung zeigten sich sowohl im Verzascatal als auch im «AescherWildkirchli». Wer die Schönheit der Natur in aller Stille und Ruhe geniessen wollte, stand mit unzähligen Gleichgesinnten in der Warteschlaufe. Macht eine solche Werbung Sinn? «Das ist die Kernfrage jeder touristischen Entwicklung, nicht nur bei Naturschönheiten», hält Markus Berger fest. «Auch die ‹Mona Lisa› im Louvre möchte man gerne lange in Ruhe anschauen.»

Deshalb sei eine gute Verteilung der Touristen auf verschiedene Orte wichtig. So gebe es in der Schweiz ebenfalls schöne Alternativen zu den populären Gipfeln und Ortschaften. «Es gilt, die Gäste so zu lenken, dass alle etwas finden, was ihren Bedürfnissen entspricht», so Berger, «und dabei genügend andere Möglichkeiten aufzuzeigen, das ist gutes Tourismusmarketing.»

Gute Tourismuswerbung ist auch mit den sozialen Netzwerken möglich. «Social Media ist eine Realität, gerade Naturschönheiten eignen sich ausgezeichnet, um beispielsweise über Instagram geteilt zu werden», sagt Berger. Im Grunde genommen sei das beste Werbung, die ausgezeichnet funktioniere. «Destinationen und Leistungsträger können gegen diese Social-Media-Mechanik nichts unternehmen – und sollen das auch gar nicht. Vielmehr ist es wichtig, diese neuen Kanäle bewusst in das eigene Marketing einzubeziehen», meint Markus Berger. Dies tue zum Beispiel Schweiz Tourismus mit der Plattform #InLoveWithSwitzerland. Kommen die Gäste, steht eines im Zentrum: «Destinationen müssen dafür sorgen, dass Gäste vor Ort gut betreut werden und die Natur konfliktfrei geniessen können.»

Besucherströme richtig lenken

Eine andere Ortschaft, die wegen der touristischen Vorkommnisse in die Schlagzeilen geraten ist, ist Interlaken. Die Gästezahl aus dem Nahen Osten hat stark zugenommen. «Der arabische Markt hat sich bei uns kontinuierlich zum zweitwichtigsten Markt entwickelt», sagt Alice Leu, Mediensprecherin von Interlaken Tourismus. Wurden 2012 mit diesen Gästen noch 58 000 Logiernächte generiert, waren es 2016 bereits 124 000. Alice Leu sieht jedoch kein grösseres Konfliktpotenzial. «Interlaken war und ist schon immer offen für neue Gästegruppen», sagt sie. «Dies war bereits so, als japanische Gäste vermehrt zu uns reisten und später indische.» Interlakens Leistungsträger seien recht flexibel und reagieren auf die veränderten Gästebedürfnisse, ohne die schweizerische Identität preiszugeben. 

Ein wichtiges Segment sind Workshops, die vor der Sommersaison durchgeführt und rege besucht werden. Die Teilnehmer sind Frontmitarbeiter von Hotels und Restaurants, Taxifahrer, Buschauffeure, Bergbahnmitarbeiter sowie weitere Tourismusinteressierte. «Wir planen in Zusammenarbeit mit der Gemeinde und dem Hotelierverein weitere Sensibilisierungsmassnahmen.» Welche das sein werden, ist voraussichtlich im kommenden Frühjahr bekannt.

(Ruth Marending)


Mehr Informationen unter:

www.luzern.com
www.interlaken.ch
www.myswitzerland.com