Die Weltgesundheitsorganisation hat den Wein im Visier und riskiert damit, ein Kulturerbe zu zerstören.
Viele Trockenmauern wurden vor über 1000 Jahren erstellt. Ohne Reben würden attraktive Parzellen zubetoniert und weniger attraktiv verganden. (Keystone-SDA)
In jeder Region der Welt legt die Weltgesundheitsorganisation WHO den Fokus auf ein anderes Thema. In Afrika ist es Ebola, im Nahen Osten die Situation in Gaza, in Amerika sind es die Röteln, in Europa nichtübertragbare Krankheiten. Dabei sähe es die WHO am liebsten, wenn Europäerinnen und Europäer ganz auf Alkohol verzichten würden. Denn ein übermässiger Konsum kann zu Leberschäden und Krebs führen. Gewiss gibt es auch Bestrebungen, den Zuckerkonsum, der zu Diabetes und Adipositas führen kann, zu reduzieren. Doch Zucker, dem bereits Kleinkinder ausgesetzt sind, stellt die WHO weit weniger an den Pranger als Alkohol.
Gegen die «Denormalisierung» von Wein regt sich Widerstand. So appelliert die Académie Internationale du Vin AIV, der auch zahlreiche Schweizer angehören, an die Staats- und Regierungschefs. Diese treffen sich am 25. September zur 80. Generalversammlung der Vereinten Nationen UNO in New York (USA). Der Appell beginnt mit der Frage: Wie lassen sich nichtübertragbare Krankheiten vermeiden, ohne gleichzeitig die Grundfesten und die Lebendigkeit eines europäischen Kulturguts zu zerstören? Diese Frage weise zu beantworten, ist eine Herausforderung. Nur allzu oft wird Wein auf das Molekül Alkohol reduziert oder als Droge bezeichnet. Viel zu selten wird bedacht, was er verkörpert. Die Mitglieder der Académie Internationale du Vin kommen aus zwanzig Nationen. Sie möchten ausdrücklich davor warnen, Wein auf ein Gesundheitsrisiko zu reduzieren und seine kulturelle und soziale Dimension ausser Acht zu lassen. Das nämlich steht auf dem Spiel.
Wein verkörpert achttausend Jahre Menschheitsgeschichte. Er steht für die Beziehung zum Boden, spiegelt sich in grossartigen Landschaften und ist Keim der Freude und des Teilens. Als universelle Sprache verbindet er Georgien mit dem antiken Griechenland, Frankreich mit Neuseeland oder die Schweiz mit Österreich. Wein ist einzigartig und global, denn er drückt überall dasselbe aus: Geduld, Demut vor der Natur und das tiefe Bedürfnis, gemeinsam zu feiern. Ein Glas Wein anzubieten, bedeutet, andere an den eigenen Tisch einzuladen. Eine Geste, die für Frieden und für das Glück der Geselligkeit steht.
Ein aktueller Bericht der National Academies of Sciences, Engineering and Medicine der USA besagt, dass «ein massvoller Konsum im Vergleich zu einem völligen Verzicht auf Alkohol mit einer geringeren Gesamtmortalität verbunden ist». Die AIV ergreift keine wissenschaftliche Partei, doch die Experten bedauern, dass der Abstimmung keine wirklich gross angelegte, randomisierte Studie zugrunde liegt, die ein objektives Urteil auf der Grundlage verifizierter Zahlen erlauben würde.
Es ist wichtig, Sucht und Missbrauch vorzubeugen und vulnerable Gruppen zu schützen. Diese Verantwortung für Aufklärung übernimmt die AIV uneingeschränkt. Nur durch Bildung lernen Konsumierende, Wein zu verkosten und massvoll zu schätzen, um selbst Botschafter der Mässigung zu werden.
(gab)